Die PACE-Studie - ein Skandal
Übersetzung der Fachbegriffe:
- PACE-Studie (PACE-Trial): Pacing, graded Activity, and Cognitive behaviour therapy; a randomised Evaluation - Beachten der Belastungsgrenze, gestufte Aktivierung, und kognitive Verhaltenstherapie; eine randomisierte Studie
- GET: Graded Exercise Therapy - Ansteigendes körperliches Belastungstraining
Nach den neuesten NICE-Guidelines vom Oktober 2021 darf GET nicht mehr verordnet werden, da signifikant schädlich.
- CBT: Cognitive Behavioural Therapy - Kognitive Verhaltenstherapie (Erklärung siehe Fußnote1)
Für CBT gilt nach den NICE-Guidelines vom Oktober 2021, dass es nicht kurativ, d.h. nicht zur Heilbehandlung einsetzbar ist, sondern lediglich unterstützend angeboten werden kann.
Die PACE-Studie, die 2011 im renommierten Fachmagazin The Lancet2 publiziert wurde, war die größte und einflussreichste wissenschaftlichen Studie zum Chronischen Fatigue-Syndrom. Sie erstreckte sich über einen Zeitraum von 8 Jahren, kostete 5 Millionen Britische Pfund, und es nahmen 641 Patienten daran teil. Die Studie, die bemerkenswerterweise ausgerechnet von drei Psychiatern geleitet wurde, untersuchte, wie sich CBT und GET auf ME/CFS-Patienten auswirken.
Nach Aussagen des PACE-Trials sollen sich 60% der Teilnehmer durch CBT verbessert haben und 22% „genesen“ sein.3 4 Die Studie weist jedoch neben falschen Diagnosekriterien zur Auswahl der Probanden weitere massive methodische Mängel auf. Es hagelte weltweit Kritik von Ärzten, Wissenschaftlern und Patientenorganisationen. Die Herausgabe der Rohdaten zur Überprüfung der Studie erforderte einen mehrjährigen Rechtsstreit. 250.000 britische Pfund blätterte die Queen Mary University of London, der Stammsitz eines der Studienleiter (Prof. P. White) hin, um die Veröffentlichung der Daten zu verhindern.5
Wesentliche Kritikpunkte an der Studie
- Obwohl die Kanadischen Konsenskriterien zum Zeitpunkt der Studie schon publiziert waren, wurden 2007 die Patienten nach den zu weit gefassten Oxford-Kriterien ausgewählt, die von ME/CFS-Expertinnen und Experten aufgrund der mangelnden Spezifität vielfach kritisiert werden. Denn durch die dort verwendeten Diagnosekriterien geht die diagnostische Schärfe für ME/CFS verloren, insbesondere wenn das Kardinalsymptom, nämlich eine häufig zeitlich versetzte Verschlimmerung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung, nicht als zentrales Diagnosekriterium verwendet wird. Verliert aber das Leitsymptom seine zentrale Bedeutung und bleiben außerdem die bei ME/CFS häufig auftretenden autonomen und endokrinen Symptome unberücksichtigt, bilden vor allem chronisch Müde oder Erschöpfte, mithin vor allem überwiegend depressive und psychisch kranke Patienten und Menschen mit nicht identifizierten Krankheiten die Studienkohorten, nicht aber die tatsächlich am „Chronischen Fatigue-Syndrom “ Erkrankten. Somit kann die Studie nicht die Wirksamkeit einer Therapie für ME/CFS-Erkrankte erfassen.6
- Andererseits wurden Patienten mit neurologischen Symptomen ausgeschlossen, obwohl ME/CFS durch die WHO bereits seit 1969 als neurologische Erkrankung klassifiziert ist (ICD 10; G 93.3).
- Ebenso wurden schwer erkrankte ME/CFS-Patienten, die nicht selbstständig in das Krankenhaus kommen konnten, nicht aufgenommen.7
- Die Erfolgsraten bei Anwendung von CBT und GET waren im Gegensatz zu den veröffentlichten Studienergebnissen nicht signifikant.8
- Die Re-Analysen zeigten, dass die Autoren der PACE-Studie 2011 und der Recovery-Studie 2013 das ursprüngliche Studienprotokoll zur Beurteilung des gesundheitlichen Fortschritts im Verlauf der Studie zugunsten von CBT und GET gelockert hatten. Auf diese Weise erhielten sie für diese Therapien 4-fach höhere Erfolgswerte.9
- „Die manipulierten Beurteilungsmaßstäbe bewirkten einen ausgedehnten `Normalbereich´ - so dass Patienten statistisch als genesen galten, obwohl sie sich gegen Ende der Studie in einem körperlichen Zustand befanden, der vergleichbar war mit Patienten, die unter kongestiver Herzinsuffizienz litten, (…) eine der häufigsten Ursachen der Notfallbehandlung!
Selbst eine objektive Zustandsverschlechterung konnte somit als Behandlungserfolg dargestellt werden. Kein einziger Patient wurde durch die Therapie wieder arbeitsfähig.“10
Die Mängel dieser Studie sind so offensichtlich, dass sich zwingend die Frage stellt, wie sie überhaupt zustande kommen und dann durch die Peer-Review-Verfahren (Gegenprüfung von unabhängigen Forschern der gleichen Fachrichtung) gelangen konnte. Wissenschaftlich ist die Studie inzwischen diskreditiert als „einer der größten Skandale des 21. Jahrhunderts“, dennoch beeinflusst sie weltweit offizielle Behandlungsempfehlungen für ME/CFS.11
Vor allem einflussreiche Psychiatrieverbände in Großbritannien haben daran festgehalten, dass ME/CFS keine organische Krankheit, sondern eine funktionelle, somatoforme Störung sei, die mit Psychotherapie und Aktivierungsstrategien erfolgreich behandelt werden könne und haben damit immer noch erheblichen Einfluss auf Politik und Meinungsbildung auch in Deutschland. Konkret bedeutet das, dass Patienten an psychiatrische Dienste verwiesen werden und nicht an andere medizinische Fachrichtungen, in denen sie möglicherweise effektiv versorgt und behandelt würden. Patientenorganisationen haben dies jahrzehntelang kritisiert und wurden dafür regelmäßig als Widerspenstige, Simulanten oder irrationale Unzufriedene dargestellt.12
NICE-Guidelines
Der lange Weg zu einer Leitlinie, die den Patient*innen nicht mehr schadet (Oktober 2021)
Trotz der massiven qualitativen Mängel und der nicht haltbaren Ergebnisse, wurde der PACE-Trial von The Lancet, eine der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften weltweit, nicht zurückgenommen. Die Studie beeinflusste weltweit offizielle Behandlungsempfehlungen, wie z.B. die international einflussreiche NICE-Guideline CG 53 (NICE - National Institute for Health an Care Excellence, Großbritannien), mit der daraus folgenden Stigmatisierung der Betroffenen.
Nachdem die PACE-Autoren 2016 durch ein Gerichtsurteil dazu gezwungen wurden, ihre Rohdaten der Studie für eine Neuberechnung des PACE-Trials zur Verfügung zu stellen, wurde eine zweite Re-Analyse erstellt und wissenschaftlich publiziert.13
Aufgrund deren Ergebnisse und weiteren hartnäckigen Drucks von Patientenorganisationen und Ärzten wegen der Evidenz weiterer Studienergebnisse (z. B. Nachweise von Autoimmunität und eines gestörten Energiestoffwechsels) hat NICE 2017 eine Überprüfungsgruppe mit fünf Vertreter*innen aus Patientenorganisationen - neben den in der Mehrheit klinisch ausgebildeten Fachleuten - eingesetzt, um die alte Leitlinie einer vollständigen Revision zu unterziehen. Das „NICE-Guideline-Komitee“ stellte fest, dass bei dem PACE-Trial zugrunde liegende Studien (172 Studien zu CBT, 64 Studien zu GET) „alle Evidenz“ für kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training von „niedriger“ oder „sehr niedriger“ Qualität war. Infolgedessen stellte das Komitee in seinem umfassenden Bericht fest, dass die Anwendung von CBT und GET als ME/CFS-Behandlung nicht durch Forschungsergebnisse gestützt wird.14
Die neue NICE-Guideline wurden schließlich am 29. Oktober 2021 veröffentlicht.15
Die gemeinsame Erkenntnis im Guideline-Komitee, dass GET signifikant schädlich ist und ME/CFS-Erkrankten deshalb nicht verordnet werden darf, stellt einen historischen Wendepunkt dar und lässt nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit hoffen, dass die schädigende Aktivierungsbehandlung mit verheerenden Folgen für die Betroffenen nicht weiter angewendet wird.16
Für CBT stellen die Guidelines fest, dass sie nicht kurativ einsetzbar ist, sondern dass sie wie bei anderen chronischen Erkrankungen lediglich bei Interesse von Erkrankten unterstützend angeboten werden kann.
Darüber hinaus hat NICE für das Long-COVID-Syndrom in einer „Schnellleitlinie“ vorläufig vor der Anwendung von ansteigendem körperlichem Training (GET) gewarnt.17
Ein relevanter Teil der Long-COVID-Patient*innen erfüllt die Diagnosekriterien für ME/CFS, daher ist eine gemeinsame zugrunde liegende Pathologie sehr wahrscheinlich.
Weitere Leitlinien
USA
Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Desease Control and Prevention) hat 2017 aufgrund anhaltenden Protestes ihre Leitlinien verändert und ihre Empfehlungen für CBT und GET von ihrer Website entfernt. Gleichzeitig hat sie u.a. die Post Exertional Malaise (PEM), also die Belastungsintoleranz als Kernsymptom von ME/CFS aufgenommen. Leider fehlte dazu ein öffentliches Statement als Signal für die Öffentlichkeit.18
EU
Das Europäische Parlament hat die EU-Mitgliedsstaaten in seiner Entscheidung vom 17.06.2020 mit einer überwältigenden Mehrheit zur verstärkten Unterstützung von Forschungsaktivitäten zu ME/CFS aufgefordert. Die Resolution fordert Fördermittel für biomedizinische ME/CFS-Forschung, Anerkennung und Aufklärung in den Staaten der EU. 19
Deutschland
In diesem Zusammenhang hat in Deutschland das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu ME/CFS zu erarbeiten, um Forschungsansätze und versorgungsrelevante Therapieoptionen zu entwickeln. Zu hoffen bleibt, dass diese Bestandsaufnahme auch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt und der Überarbeitungsprozess der Leitlinie Müdigkeit der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin), die das Krankheitsbild ME/CFS weiterhin hartnäckig eklatant falsch einordnet, in positiver Richtung beeinflusst wird.20
Leider hat das IQWIG die Fertigstellung des Berichts erst für 2023 angekündigt und es wurden leider nicht die führenden Expert*innen und ebenfalls keine Patientenvertreter*innen in die Erarbeitung einbezogen, wie es beim Guideline-Komitee des NICE in Großbritanien der Fall war.
Update (12.12.2022): Leider haben sich unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet: Im Vorbericht des IQWIG werden u.a. auf Basis der PACE-Studie die Therapiemethoden GET und CBT empfohlen. Mehr Infos zum Vorbericht sowie unsere Stellungnahme gibt es in unserem zugehörigen Artikel und weitere zukünftige Artikel werden unter dem Stichwort Deutschland zu finden sein.
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Die Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) geht davon aus, dass manche Störungen mit negativen, realitätsfremden und verzerrten Denk- und Verhaltensmustern zusammenhängen. Ziel einer CBT ist entsprechend eine Veränderung der dysfunktionalen Kognitionen, in deren Folge das Erleben, das Fühlen und das Verhalten einer Person sich verändern.
Diese Therapieform ist grundsätzlich sinnvoll sofern tatsächlich eine dysfunktionalen Kognition vorliegt. Dies ist bei ME/CFS-Patient*innen jedoch nicht der Fall - die Warnehmung der krankheitsbedingten Entkräftung und Schmerzen sind keine irrationale Einbildung. Wird hier dennoch CBT eingesetzt, wird die vorhandene, gesunde Wahrnehmung angegriffen und typischerweise durch ein Ignorieren der Krankheitssymptome ersetzt. Dies ist ein Missbrauch der Therapiemethode und entspricht in der Wirkung sogenanntem Gaslighting. ↩ - White PD, Goldsmith KA, Johnson AL, Potts L Walwyn R et al (2011), Comparison of adaptive pacing therapy, cognitive behaviour therapy, graded exercise therapy, and specialist medical care for chronic fatigue syndrom (PACE): a randomised trial, The Lancet; 377:823-36, DOI: 10.1016/S0140-6736(11)60096-2, PMID: 21334061. ↩
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Siehe 2. (White et al: Comparison of ...),
zitiert nach: Myalgische Enzephalomyelitis (ME), Millions Missing Deutschland. ↩ -
White P.D. et al. (2013), Recovery from chronic fatigue syndrome after treatments given in PACE trial, Psychological Medicine, 43:2227-2235, DOI: 10.1017/S0033291713000020,
zitiert nach: Myalgische Enzephalomyelitis (ME), Millions Missing Deutschland. ↩ -
Margaret Williams (14th September 2016), Proof positive? (Revisited) (Abruf 29.01.17)
zitiert nach: 5. (K. Voss: ME...), S. 279 ↩ - Katharina Voss, ME - Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom - Fakten, Hintergründe, Forschung, tredition GmbH Hamburg 2017, ISBN: 978-3743924949, S. 274 ↩
- Sibylle Reith, ME/CFS erkennen und verstehen, tredition GmbH, Hamburg, ISBN: 978-3-7469-0167-1, S. 41 ↩
- Siehe: 7. (S. Reith: ME/CFS erkennen...), S. 44 ↩
- Siehe: 7. (S. Reith: ME/CFS erkennen...), S. 44 ↩
- Siehe: 7. (S. Reith: ME/CFS erkennen...), S. 46 ↩
- Vgl.: ME/CFS – News Update 10/2018, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS ↩
- The new NICE Guideline for ME/CFS: Ten Questions Answered, The Science Bit (Prof. Brian Hughes), Abruf 12.11.2021. ↩
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Vgl.: Carolyn Wilshire, Tom Kindlon, Alem Mathees und Simon McGrath (2016), Can patients with chronic fatigue syndrome really recover after graded exercise or cognitive behavioural therapy? A critical commentary and preliminary re-analysis of the PACE trial, Fatigue: Biomedicine, Health & Behavior, Volume 5, 2017 - Issue 1,
DOI: 10.1080/21641846.2017.1259724,
zitiert nach: ME/CFS-Update 02/2016, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. ↩ - Siehe 12. (Science Bit: new NICE Guideline ...). ↩
- NICE Guideline NG206: Myalgic encephalomyelitis (or encephalopathy)/chronic fatigue syndrome: diagnosis and management, Abruf 12.11.2021. ↩
- Final NICE ME/CFS guideline published – Find out the big news!, #MEAction, Abruf 12.11.2021. ↩
- Siehe 12. (Science Bit: new NICE Guideline ...). ↩
- Centers for Disease Control and Prevention, MEpedia (Enzyklopädie Myalgische Enzephalomyelitis), (Abruf 12.11.2021) ↩
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Europäisches Parlament verabschiedet Resolution zu ME/CFS, (Abruf 12.11.2021),
Die Resolution selbst (18.06.2020). ↩ - Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM) (2017), S-3 Leitlinie Müdigkeit, AWMF-Register-Nr.053-002. ↩