Die Situation in Deutschland
Epidemiologie
Große epidemiologische Untersuchungen in den USA ergaben vor der Corona-Pandemie für Erwachsene eine ME/CFS-Prävalenz von 0,42 %1 und bei Kindern eine Häufigkeit von 0,75 %2, sodass in Deutschland von ca. 300.000 ME/CFS-Erkrankten ausgegangen werden konnte. Da die Krankheit im deutschen Gesundheitssystem seit Jahrzehnten weitgehend ignoriert und verharmlost wird und Betroffene fälschlicherweise häufig als psychisch oder psychosomatisch krank fehldiagnostiziert und verkannt werden, ist eine genaue Zahlenangabe nicht möglich.3 Die Dunkelziffer der Betroffenen ohne Diagnose liegt bei etwa 90%.
In einer neueren Stellungnahme gibt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) für den präpandemischen Zeitraum 350.000 bis 400.000 Behandlungsfälle und für das Jahr 2021 knapp 500.000 Patient*innen deutschlandweit an.4 In den folgenden Pandemiejahren muss mit einer weiteren deutlichen Zunahme ME/CFS-Erkrankter gerechnet werden.
Forschung
Seit etlichen Jahren findet die internationale Forschung immer weitere Hinweise und Belege dafür, dass es sich bei ME/CFS um eine neuroimmunologische Erkrankung handelt. Diese Ergebnisse werden in Deutschland leider kaum zur Kenntnis genommen und fließen nicht in ärztliche Aus- und Fortbildungen ein.5 Daher hat die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS eine eigene Fortbildung für medizinisches Fachpersonal entwickelt, die sie auf ihrer Homepage zur Verfügung stellt.6 Die internationale Einstufung als schwere chronische organische Erkrankung ist in Deutschland nicht bekannt oder sie wird ignoriert.
Bis 2021 wurden keinerlei Gelder für eine adäquate Aufklärung oder zur Förderung biomedizinischer und klinischer Forschung bereitgestellt (2021 erstmals ein geringer Betrag i.H.v. ca. 3,5 Millionen € über die nächsten 3 Jahre verteilt). Ebenso wenig fand ein Wissenstransfer wegweisender internationaler Studien statt.7 ME/CFS-Erkrankte und ihre Angehörigen warten verzweifelt auf biomedizinische Forschung. Weltweit versuchen sie und die wenigen privaten Stiftungen, die Forschung zu finanzieren und voranzutreiben.8
Zur Lage der Betroffenen, Angehörigen und Freunde
Immer wieder wird kolportiert, dass ME/CFS-Patienten vor allem das „Stigma“ einer psychiatrischen Diagnose ablehnen und sie deshalb darauf bestünden, eine organische Krankheit zu haben. Aber würde den Betroffenen eine psychiatrische bzw. verhaltenstherapeutische Behandlung (CBT) helfen, wären die allermeisten angesichts ihrer ansonsten recht ungewissen Lage sofort bereit, dies hinzunehmen, anstatt arbeitsunfähig und häufig pflegebedürftig isoliert in einem abgedunkelten, schallgeschütztem Raum über Jahre und Jahrzehnte wie in einem Gefängnis dahinzuvegetieren - ohne irgendeine Ahnung zu haben, wie und wann sich dieser Zustand ändern könnte.
Die Stigmatisierung besteht also nicht etwa darin, als depressiv oder psychosomatisch oder psychisch krank betrachtet zu werden und dies als Demütigung zu erfahren und nicht ertragen zu können, sondern die Stigmatisierung wird ausgelöst durch das Misstrauen und die Herabwürdigung, die man erfährt, wenn einem Ärzte aufgrund ihrer Unwissenheit immer wieder nicht glauben, man immer wieder nicht ernst genommen und weggeschickt wird; oder wenn man in herabsetzender Weise - mehr oder weniger offen - zum charakterschwachen Depressiven oder zum arbeitsscheuen Simulanten erklärt wird, obwohl man ja nur zu gerne wieder alles machen würde wie früher.
Die fehlende Kenntnis und Anerkennung der Krankheit und ihrer Folgen ist nicht nur ein Problem des gesamten Gesundheitswesens und damit auch der sozialen Versorgungs- und Sicherungssysteme, sondern gerade auch des direkten sozialen und familiären Umfelds, also von Freunden und Familie. So können aus Hilflosigkeit und Unkenntnis - gerade von umgebenden Personen - negative Reaktionen, wie Distanzierungen, Unverständnis, unpassende Ratschläge, nicht mehr ernst nehmen, Ärger, Schuldzuweisungen sowie Psychologisierungen bis hin zu verletzender Herabsetzung ausgehen, die die Betroffenen empfindlich treffen können und sie zusätzlich belasten.
Da auch die Erkrankten häufig über viele Jahre nichts von ME/CFS wissen oder erfahren, ist es ihnen kaum möglich, sich diesen unangebrachten Diskriminierungen zu erwehren, die ihre sowieso bereits vorhandene Verunsicherung und Verzweiflung in der Regel nur noch weiter verstärken.
Studien zeigen: Je eher ME/CFS-Betroffene empfanden, dass sie nicht genug soziale Unterstützung erfahren und ihr Umfeld ME/CFS als selbstverschuldet wahrnimmt, desto höher ist auch die empfundene Stigmatisierung. Die höhere Stigmatisierung geht wiederum mit einem schlechteren Gesundheitszustand und einer niedrigeren Zufriedenheit (...) einher. „Diese Ergebnisse zeigen, dass ein ungünstiges Muster von wahrgenommenen Ursachenzuschreibungen des sozialen Umfelds mit höherer Stigmatisierung und negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen für die Betroffenen einhergeht.“9 Die Aufklärung nicht nur des medizinischen Personals, sondern auch der Öffentlichkeit über die organischen Ursachen von ME/CFS ist also dringend nötig.
Medizinische, pflegerische und soziale Versorgung
Die Lage der ME/CFS-Patienten ist erschreckend. Viele von ihnen sind über Jahre und Jahrzehnte, eventuell ein Leben lang ans Bett gefesselt. Die Pflege dieser Menschen wird Eltern, Verwandten, Kindern oder Freunden überlassen, die damit in der Regel überfordert sind.10 Eine medizinische Versorgung oder wenigstens regelmäßige Hausbesuche eines Arztes oder Ärztin finden nicht statt und der körperlich schwache Zustand sowie die Gefahr der Zustandsverschlechterung durch die zu hohe Belastung lassen ambulante Arztbesuche nicht zu. Oftmals führt die Erkrankung zu einer finanziellen Notlage, da trotz Arbeitsunfähigkeit keine Sozialleistungen gezahlt werden.11
Aufgrund von völliger Unkenntnis im Gesundheitssystem und daraus folgend unterbleibenden und falschen Diagnosen gibt es also so gut wie keine spezifische medizinisch-kassenärztliche Versorgung. Es existiert in Deutschland auch keine adäquate medizinische Versorgung gemäß der WHO-Klassifikation G93.3: Nur zwei Ambulanzen an der Charité Berlin und der Technischen Universität München sowie wenige Privatärzte sind verfügbar. „Versorgungszentren für schwer Erkrankte fehlen ganz. Viele ME/CFS-Erkrankte sind oft mit langjährigen Kämpfen um Sozialleistungen, Anerkennung der Erwerbsunfähigkeit oder Bewilligung der Pflegestufen konfrontiert. Fehlende Informationen über ME/CFS in Schulen und Bildungseinrichtungen führen sogar zu unangemessenen Kinderschutzverfahren gegen die Eltern schulpflichtiger Kinder, die aufgrund der Erkrankung oft oder über einen längeren Zeitraum nicht zur Schule gehen können.“12
Auch die Leitlinie «Müdigkeit» Nr. 053-002 der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), die als Hilfestellung für Ärzte zur Entscheidungsfindung dienen soll, beruht nicht auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ohne belastbare Forschungsergebnisse empfiehlt die DEGAM weiterhin in ihrer aktuell veröffentlichten revidierten Fassung, dass Verhaltens- oder Aktivierungstherapie (CBT/GET) generell sinnvolle Behandlungsansätze darstellen. Die DEGAM geht bei ME/CFS also weiterhin von einer psychosomatischen Erkrankung aus.13
Aufgrund selektiver Literaturauswahl ist der Abschnitt zu ME/CFS in der Leitlinie Müdigkeit zu einer Autorenmeinung herabgestuft worden.
Runder Tisch der ME/CFS-Patientenorganisationen mit dem Gesundheits- und Forschungsministerium14
Am 10. Dezember (2020) fand zum ersten Mal ein Gespräch zwischen den Patientenorganisationen Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Fatigatio e.V. Bundesverband ME/CFS, Lost Voices Stiftung und #MillionsMissing Deutschland sowie Vertreter*innen des Bundesministerium für Gesundheit, des Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Patientenbeauftragten des Bundes statt.
Anlass waren der offene Brief, den die Patientenorganisationen nach der EU-Resolution zu ME/CFS (v, 18.06.2020) gemeinsam an die Ministerien gerichtet haben und die vielfachen Anfragen bei Abgeordneten für eine verbesserte medizinische und sozialrechtliche Versorgung der ME/CFS Patienten.
Die Ministerien stimmten zu, dass es sich bei ME/CFS um eine wichtige Erkrankung handelt und Handlungsbedarf besteht. Ebenso, dass durch die EU-Resolution, die vielen Aktivitäten der Betroffenen und Organisationen, das Bewusstsein über ME/CFS in der Politik deutlich gestiegen ist. Es gab die gemeinsame Übereinstimmung, dass möglichst zeitnah eine deutliche Verbesserung der Versorgungslage erreicht werden muss.
Das BMG beauftragt im ersten Schritt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), einen umfassenden Review zum aktuellen Wissenstand über ME/CFS zu verfassen. In den Prozess sollen ausdrücklich auch ME/CFS-Expert*innen und die Patientenorganisationen eingebunden werden. Im Anschluss an die Erstellung des Berichts ist eine Aufklärungskampagne für Ärzt*innen geplant. (...)
Im nächsten Jahr wird in gleicher Runde ein Anschlussgespräch über die bis dahin umgesetzten Maßnahmen und Fortschritte geführt.
Es stimmt zuversichtlich, dass die Politik endlich den Handlungsbedarf anerkennt und zu Gesprächen bereit ist. Dies sind wichtige erste Schritte, auf die auf Bundes- und Länderebene weiter aufgebaut werden muss. Siehe unsere aktuellen Artikel zu Deutschland und Baden-Württemberg.
- Leonard A. Jason, PhD; Judith A. Richman, PhD; Alfred W. Rademaker, PhD; et al (1999): A Community-Based Study of Chronic Fatigue Syndrome, Arch Intern Med. 159(18):2129-2137, DOI: 10.1001/archinte.159.18.2129. ↩
- Leonard A. Jason, Ben Z. Katz, Madison Sunnquist, Chelsea Torres, Joseph Cotler & Shaun Bhatia (2020): The Prevalence of Pediatric Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome in a Community-Based Sample, Child Youth Care Forum 49, 563–579, DOI: 10.1007/s10566-019-09543-3. ↩
- Die Verharmlosung und Fehlinterpretation ist u.a. auch eine Folge des Namens „Chronisches Fatiguesyndrom“ (CFS) bzw. „Chronisches Erschöpfungs- oder Müdigkeitssyndrom“. Aus diesem Grund wird von Patientenorganisationen der ursprüngliche Krankheitsbegriff „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME) bevorzugt, der sich eindeutig auf eine organische, neurologische Krankheit bezieht. Zur besseren Verständigung wird meist der Begriff „ME/CFS“ verwendet, der beide Begriffe beinhaltet. ↩
- Stellungnahme der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (April 2023) zum Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „ME/CFS-Betroffenen sowie deren Angehörigen helfen – für eine bessere Gesundheits- sowie Therapieversorgung, Aufklärung und Anerkennung“ (Drucksache 20/4886). ↩
- Vgl. Lage der Patienten, Bündnis ME/CFS (Abruf 03.09.2021). ↩
- Online-Fortbildung zu Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) für medizinisches Fachpersonal, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. ↩
- Vgl. Startseite der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, Abschnitt "Darum ist unsere Arbeit wichtig" (Abruf 03.09.2021). ↩
- Vgl. Interessensvertretung, Lost Voices Stiftung (Abruf 03.09.2021). ↩
- Studie zur Stigmatisierung von Menschen mit ME/CFS, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS (Abruf 03.09.2021). ↩
- Vgl. 5. (Bündnis ME/CFS: Lage der Patienten). ↩
- Vgl. 5. (Bündnis ME/CFS: Lage der Patienten). ↩
- Siehe 8. (Lost Voices: Interessensvertretung). ↩
- Vgl. Myalgische Enzephalomyelitis (ME), Millions Missing Deutschland (Abruf 03.09.2021). ↩
- Dieser Absatz ist vollständig aus dem Artikel Runder Tisch der ME/CFS-Patientenorganisationen mit dem Gesundheits- und Forschungsministerium von Millions Missing Deutschland zitiert (Abruf 03.09.2021). ↩