Diagnosekriterien

Die Kanadischen Konsenskriterien (engl. Canadian Consensus Criteria)

Als Grundlage in der ME/CFS Forschung und zur klinischen Diagnose hat sich international die sogenannte „Kanadische Definition“ von 2003 durchgesetzt. Anhand dieses Definitionsschemas kann die Diagnose ME/CFS klinisch gesichert werden (z.B. mit dem Fragebogen des Charité Fatigue Centrum). Das Kanadische Konsensusdokument stellt die Diagnose ME/CFS nach folgenden Kriterien:

Für ME/CFS müssen nach Ausschluss anderer physischer oder psychischer Erkrankungen, die den Zustand erklären könnten, folgende Symptome vorliegen (Einschränkungen in Klammern):1 2

  1. Erschöpfung und Zustandsverschlechterung nach Belastung (alle Kriterien dieses Abschnittes müssen erfüllt sein):
    • Der Patient muss unter einem deutlichen Ausmaß einer neu aufgetretenen, anderweitig nicht erklärbaren, andauernden oder wiederkehrenden körperlichen oder mentalen Erschöpfung leiden, die zu einer erheblichen Reduktion des Aktivitätsniveaus führt.
    • Es liegen ein unverhältnismäßiger Verlust von körperlicher und geistiger Ausdauer und eine rasche muskuläre und kognitive Ermüdbarkeit vor. Nach Belastung kommt es zu einer Zustandsverschlechterung und/oder Erschöpfung und/oder Schmerzen sowie einer Tendenz zur Verschlimmerung anderer Symptome innerhalb des Symptommusters des Patient*innen. Die Erholungsphase ist pathologisch verlangsamt und dauert gewöhnlich 24 Stunden oder länger.
  2. Schlafstörungen: Der Schlaf ist von der Qualität oder Menge her nicht erholsam oder es liegen Störungen des Schlafrhythmus’ vor (z.B. Vertauschung des Tag-Nacht-Rhythmus’, chaotische Tagesschlafrhythmen)
  3. Schmerzen: Es liegt ein deutliches Ausmaß an Myalgien vor. Die Schmerzen treten in den Muskeln auf und/oder in den Gelenken und sind oft generalisiert und wandernd. Häufig treten erhebliche Kopfschmerzen eines neuen Typus’, Musters oder Schweregrads auf.
  4. Neurologische/Kognitive Manifestationen (Mindestens 2 Kriterien müssen erfüllt sein):
    • Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und der Konsolidierung des Kurzzeitgedächtnisses
    • Schwierigkeiten mit der Informationsverarbeitung, mit Kategorienbildung und Wortfindung
    • Es können Überlastungsphänomene auftreten: Bei Überlastung durch kognitive und sensorischen sowie emotionale Einflüsse kann es zu Rückfällen und/oder Angstzuständen kommen (oft Lichtempfindlichkeit und Überempfindlichkeit gegenüber Lärm)
    • Wahrnehmungs- und sensorische Störungen: z.B. räumliche Unsicherheit und Desorientierung, Unfähigkeit, den Blick zu fokussieren.
    • Verwirrtheit, Desorientiertheit
    • Ataxien (Bewegungskoordinationsstörungen)
    • Muskelschwäche und Muskelzuckungen
  5. Autonome/ neuroendokrine/ immunologische Manifestation (mind. je ein Symptom in wenigstens zwei der folgenden Kategorien muss erfüllt sein)
    • Autonome Manifestationen:
      • orthostatische Intoleranz (z.B. neutral vermittelter niedriger Blutdruck (NMH)),
      • Posturales Tachykardiesyndrom (POTS), verzögerte posturale orthostatische Intoleranz,
      • Benommenheit und/ oder Schwindel
      • extreme Blässe
      • Darm- und Blasenstörungen, z.B. Reizdarmsyndrom und Blasendysfunktion
      • Übelkeit
      • Herzklopfen mit oder ohne Herzrhythmusstörungen
      • Kurzatmigkeit nach Belastung
    • Neuroendokrine Manifestationen:
      • Verlust der thermostatischen Stabilität, z.B. subnormale Körpertemperatur und ausgeprägte Tagesschwankungen, episodisches Schwitzen, rezidivierendes Fiebergefühl und kalte Extremitäten
      • Intoleranz gegenüber Hitze- und Kälteextremen
      • deutliche Gewichtsveränderungen: Anorexie oder anormaler Appetit
      • Verlust der Anpassungsfähigkeit und Symptomverstärkung bei Stress
    • Immunologische Manifestationen:
      • schmerzhafte Lymphknoten
      • wiederkehrende Halsschmerzen
      • wiederkehrende grippeähnliche Symptome
      • allgemeines Krankheitsgefühl
      • neu auftretende Überempfindlichkeiten gegen Nahrungsmittel, Medikamente und/oder Chemikalien.
  6. Die Krankheit muss seit mindestens sechs Monaten bestehen: Der Beginn ist gewöhnlich abrupt und klar erkennbar, obwohl er auch schleichend sein kann. Bei Kindern ist ein Zeitraum von drei Monaten angemessen.

Das Set an Symptomen und die Ausprägungen sind bei jedem an ME/CFS erkrankten Menschen unterschiedlich. Die Symptome können sich in Intensität und Auftreten dabei im Laufe der Erkrankung verändern. Weil die Ursache der Erkrankung nicht bekannt ist, gibt es keine allgemeinen Therapieempfehlungen; eine Behandlung kann nur individuell und symptombezogen erfolgen. Wie bei allen Erkrankungen kann es zu spontanen Rückbildungen kommen, die Rückfallrate ist allerdings hoch- besonders nach banalen Infekten, physischer Belastung oder Stress. Über die Jahre kommt es häufig zu einer langsamen Besserung mit Rückfällen und Erholungsphasen. Der Grad der Behinderung kann bei ME/CFS bis zur vollkommenen Bettlägerigkeit gehen. Nur wenige erholen sich irgendwann soweit, dass sie wieder arbeiten gehen können. Gesicherte Daten über die Heilungschancen bei ME/CFS liegen bisher kaum vor; Metastudien sprechen von einer Rate zwischen 0 und 12%.

Krankheitsverlauf und Schweregrad3

ME/CFS ist eine Erkrankung, die unterschiedliche Verlaufsformen und Schweregrade, von mild bis sehr schwer, annehmen kann. Je schwerer die Erkrankung, desto niedriger ist auch die Belastungsschwelle, die zu einer Zustandsverschlechterung führt.

Mild Erkrankte können ggf. noch arbeiten, aber haben z. B. nicht mehr die Möglichkeit ihren Hobbys nachzugehen oder Sozialkontakte zu pflegen. Für moderat Erkrankte reicht die Kraft meist nicht mehr zum Arbeiten aus. Selbst die Verrichtung des eigenen Haushalts kann zu einer großen Herausforderung werden. Schwer Erkrankte sind überwiegend bettlägerig. Selbst der Gang ins Bad kann schon zu einer schweren Zustandsverschlechterung führen. Schwerst Erkrankte sind bettlägerig und komplett pflegebedürftig. Diese Patient*innen liegen oft aufgrund starker Lichtempfindlichkeit im Dunkeln, können teilweise nicht mehr sprechen und müssen mitunter künstlich ernährt werden.

25% der Betroffenen sind an Haus oder Bett gebunden.4 Über 60 % können nicht mehr arbeiten.5 Die Krankheit verläuft meist chronisch, in seltenen Fällen sogar progressiv. Eine vollständige Erholung ist selten.6 In den meisten Fällen bleiben die Patient*innen in ihrer Lebensführung schwer beeinträchtigt.

Die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten ist Studien zufolge oft niedriger als die von Multiple Sklerose-7, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatient*innen.8

  1. Carruthers B. M. et al. (2003), Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome: Clinical working case definition, diagnostic and treatment protocols (Canadian case definition), Journal of Chronic Fatigue Syndrome, 11(1): 7-115, DOI: 10.1300/J092v11n01_02.
  2. Carruthers B, van de Sande M (2005), Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: A Clinical Case Definition and Guidelines for Medical Practitioners, An Overview of the Canadian Consensus Document, The National Library of Canada, ISBN: 0-9739335-0-X;
    Vollständige Deutsche Übersetzung: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom: Ein Überblick über das Kanadische Konsensdokument (Abruf: 13.07.2018).
  3. Der folgende Abschnitt ist bis auf minimale Änderungen wortwörtlich übernommen von: Myalgische Enzephalomyelitis (ME), Abschnitt "Krankheitsverlauf und Schweregrad", Millions Missing Deutschland.
  4. Committee on the Diagnostic Criteria for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome; Board on the Health of Select Populations; Institute of MedicineInstitute of Medicine (2015), Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness, Washington (DC): The National Academies Press (USA), DOI: 10.17226/19012.
  5. Bateman L. et al. (2014), Chronic fatigue syndrome and comorbid and consequent conditions: evidence from a multi-site clinical epidemiology study, Fatigue: Biomedicine, Health & Behaviour, DOI: 10.1080/21641846.2014.978109
  6. Cairns R., Hotopf M. (2005), A systemic review describing the prognosis of chronic fatigue syndrome, Occupational Medicine, 55(1): 20-31 DOI: 10.1093/occmed/kqi013.
  7. Kingdon C. C. et al. (2018), Functional status and well-being in people with myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome compared with people with multiple sclerosis and healthy controls, PharmacoEconomics - Open, 2:1-12, DOI: 10.1007/s41669-018-0071-6.
  8. Ehlers L. et al. (2015), The Health-Related Quality of Life for Patients with Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), PLOS ONE 10(7): e0132421, DOI: 10.1371/journal.pone.0132421.

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