Was ist ME/CFS?
Die Krankheit
Myalgische Enzephalomyelitis (ME), auch bekannt unter dem Namen Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) oder ME/CFS, ist eine erworbene, schwere chronische Multisystemerkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Menschen, die an ME/CFS erkrankt sind, haben oft eine sehr niedrige Lebensqualität. Schätzungsweise über 60 Prozent sind arbeitsunfähig.1
Ein Viertel aller Patienten kann das Haus nicht mehr verlassen, viele sind bettlägerig und auf Pflege angewiesen.2
In Deutschland wurde die Zahl ME/CFS-Betroffener vor der COVID-19-Pandemie auf etwa 250.000 - 300.000 geschätzt, davon rund 40.000 Kinder und Jugendliche. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) gibt nach neusten Veröffentlichungen die Zahl der Behandlungsfälle in den präpandemischen Jahren 2018 und 2019 sogar mit 350.000 bis 400.000 an. In der aktuellen COVID-19-Pandemie zeigt sich, dass erwartungsgemäß eine große Subgruppe der Long-COVID-Betroffenen ME/CFS entwickelt. Die KBV geht von einem Anstieg allein im ersten kompletten Pandemiejahr 2021 auf knapp 500.000 Patient*innen deutschlandweit aus.3 In den folgenden Pandemiejahren muss mit einer weiteren deutlichen Zunahme ME/CFS-Erkrankter gerechnet werden.
In der deutschen, wie auch internationalen Öffentlichkeit und leider auch unter Ärzten ist ME/CFS weitestgehend unbekannt oder wird oft fälschlicherweise als psychosomatische oder psychiatrische Erkrankung angesehen. Die Unwissenheit und der diagnostisch blinde Fleck der Ärzte hat im deutschsprachigen Raum auch zu der alleinigen Bezeichnungen Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) oder Chronisches Erschöpfungs- oder Müdigkeitssyndrom geführt, die die klar diagnostisch definierte neurologische Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis letztlich negiert, ihre reale Verbreitung verschleiert und so die Behandlung in die Irre führt und mögliche Forschungsansätze erst gar nicht aufkommen lässt. Vermutlich ist das der Grund, weshalb bis zu 90% nicht oder falsch diagnostiziert sind.4 Diese Missinterpretation und Unkenntnis von ME im Gesundheitssystem hat zur Folge, dass ME-Patienten über Jahre unzählige Ärzte konsultieren, die sie nicht als ME-Erkrankte erkennen, sodass eine krankheitsgerechte medizinische Versorgung nicht stattfindet und sich die Erkrankung durch die fehlende systematische Reduktion von Belastungen (Pacing) weiter verschlimmern kann. Vielfach wird daher auch gefordert nur von ME zu sprechen. Zur besseren Verständigung werden wir die Bezeichnung ME/CFS in den weiteren Ausführungen beibehalten.
Belastungsintoleranz
Menschen mit ME/CFS verfügen nur noch über einen Bruchteil ihres früheren Leistungsvermögens. Alltägliche Aktivitäten sind oft nicht mehr möglich. Das Kardinalsymptom der Erkrankung ist die Belastungsintoleranz, d.h. eine ausgeprägte, anhaltende und zum Teil dramatischen Verschlechterung der Symptome nach zu hohen oder zu langen Belastungen. Diese so bezeichnete Post-Exertional Malaise (PEM) kann unmittelbar oder mit einer Verzögerung von bis zu 24-48 Stunden in Form einer starken allgemeinen Zustandsverschlechterung auftreten, von der sich Betroffene erst über mehrere Tage, manchmal Wochen, wieder erholen. Je nach Schweregrad der Krankheit und individueller Belastungsgrenze wird sie schon durch geringe Aktivitäten wie Sitzen, Stehen oder wenige Schritte Gehen ausgelöst. Schon geringfügige Tätigkeiten wie Zähneputzen, Duschen oder Kochen können zur Tortur werden; Besorgungen im Supermarkt können anschließend durch eine schwere Fatigue mit kognitiven Störungen, ausgeprägten Schmerzen, einer Überempfindlichkeit auf Sinnesreize und mit Störungen des Immun- und des autonomen Nervensystems zu tagelanger Bettruhe zwingen.5 Unter ME/CFS-Erkrankten wird diese Zustandsverschlechterung nach körperlicher, mentaler oder emotionaler Anstrengung als „Crash“ bezeichnet.
Weitere Symptome
ME/CFS beginnt meist nach einem Infekt, zum Beispiel häufig einer Infektion mit dem Eppstein- Bar-Virus oder der Influenza, aber auch schleichende Verläufe sind bekannt. Junge, vorher gesunde Menschen erholen sich nicht mehr von der Infektion und werden chronisch krank. Auf Grund der multisystemischen Erkrankung treten eine Vielzahl weiterer Symptome auf:6
- ein erhebliches Krankheitsgefühl mit grippeartigen Beschwerden wie Halsschmerzen, geschwollenen Lymphknoten oder Reizhusten und einer erhöhten Infektanfälligkeit,
- Schmerzen verschiedenster Art, z.B. heftige Kopfschmerzen eines neuen Typus (oft migräneähnlich), Glieder- und Muskelschmerzen und Schmerzen im Bewegungsapparat, ein schweres Erschöpfungsgefühl, das mit einer normalen Müdigkeit am Abend nicht zu vergleichen ist, sowie massive Schlafstörungen,
- neurologische Symptome, wie Konzentrationsstörungen, Wortfindungsstörungen und einem benebelten Gefühl, genannt „brain fog“ sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit.
- massive Ein- und Durchschlafstörungen, nicht erholsamer Schlaf
- Störungen des vegetativen Nervensystems, z.B. der Darm- und Blasenfunktion und des Kreislaufs mit Herzrasen, Blutdruckschwankungen, Schwindel und Benommenheit und der damit einhergehenden Unfähigkeit für längere Zeit zu stehen und zu sitzen, bekannt als Posturales Orthostatisches Tachykardie-Syndrom, genannt POTS.
„Den etablierten Kriterien ist gemeinsam, dass für das Stellen einer Diagnose von ME/CFS das Kardinalsymptom Post-Exertional Malaise, eine charakteristische belastungsinduzierte Symptomverschlechterung, vorliegen muss. ME/CFS kann zielgerichtet (z. B. anhand der Kanadischen Konsenskriterien/CCC7) diagnostiziert werden und wird inzwischen nicht mehr als Ausschlussdiagnose angesehen." 8
Aber obwohl die Krankheit seit über fünfzig Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung (ICD-10 G 93.3) anerkannt und in Schwere und Häufigkeit mit Multipler Sklerose vergleichbar ist, ist sie unter Ärzten weitgehend unbekannt und wird vom gesamten Gesundheitssystem bis heute ignoriert und sträflich vernachlässigt: Neuere Studien weisen zwar auf eine mögliche Autoimmunerkrankung9 und eine schwere Störung des Energiestoffwechsels10 hin, häufig ausgelöst durch virale Infektionen,11 doch die genauen Ursachen der Erkrankung sind bisher immer noch ungeklärt. Es gibt immer noch keine kurative Behandlung oder Heilung12 , keine fachärztliche Betreuung, keine medizinische Leitlinie auf der Grundlage des neuesten wissenschaftlichen Forschungsstandes13 und ME/CFS ist kein fester Bestandteil der ärztlichen Ausbildung. Die mögliche medizinische Versorgung besteht in der Linderung der individuellen Symptome. Ein Biomarker zur eindeutigen Diagnose fehlt bisher.
Durch fehlende Aufklärung von Politik, Ärzteschaft und Öffentlichkeit erfahren die Patienten eine erhebliche Stigmatisierung sowie mangelnde Anerkennung bei Krankenkassen, Versorgungsämtern, Rentenversicherungen etc. Neben einer angemessenen medizinischen Versorgung fehlt folglich ebenso die Unterstützung durch das Sozialsystem.14 Die Erkrankten sehen sich vielfach abgelehnten Anträgen auf Sozialleistungen gegenüber und müssen häufig einen langwierigen Klageweg bestreiten um ihre Ansprüche durchzusetzen.
Leben mit der Krankheit
Für ME/CFS-Betroffene gibt es keine zugelassene kurative Behandlung und damit leider nur wenig Aussicht auf Besserung oder Heilung. Das Leben mit ME/CFS ist abhängig vom Schweregrad der Erkrankung und vom sozialen Umfeld. Vielen gelingt es, trotz der Erkrankung ein zufriedenes Leben zu führen.
Die Akzeptanz einer schweren chronischen Erkrankung braucht allerdings Zeit – sowohl für die Betroffenen als auch für Angehörige und Freunde. Für die Erkrankten ist Verständnis und Unterstützung gerade durch ihre Familienmitglieder und besten Freunde äußerst wichtig. Um (vermeintliche) Erwartungen zu erfüllen, gehen sie erfahrungsgemäß viel zu oft über ihre Grenzen, teils aus falscher Scham, teils weil sie ihre Grenzen noch nicht genau kennen oder weil sie sich noch nicht mit ihrem deutlich verminderten Leistungsvermögen abfinden können. Um jedoch einen Einbruch und anhaltende Verschlechterung zu vermeiden, ist es ganz wichtig, Ruhe zu finden und Unterstützung durch das soziale Umfeld zu erbeten und anzunehmen.15
Pacing
Die Belastungsintoleranz (PEM) erfordert die strikte Vermeidung von Überlastung und einen schonenden Umgang Betroffener mit ihren Ressourcen. Es gilt die Häufigkeit und Schwere von Crashs zu minimieren. Dieses Disease- und Aktivitätsmanagement ist international unter dem Begriff „Pacing“ bekannt. Je weniger das Pacing beachtet wird und je mehr Patient*innen zur Steigerung ihres Aktivitätsniveaus angehalten werden, desto länger und schwerwiegender sind die darauf folgenden Zustandsverschlechterungen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sich durch Überlastung der Allgemeinzustand verschlechtert und sich die Lebensqualität der Patient*innen dauerhaft weiter einschränkt.
Zentrale Botschaft des Pacings ist, auf den eigenen Körper zu hören. Aktivitäten und Tätigkeiten richten sich streng nach den eingeschränkten körperlichen Energiereserven. Starke emotionale Beanspruchung sollte ebenfalls vermieden bzw. begrenzt werden. Löst eine Aktivität PEM bzw. weitere Symptome aus, ist sie zu intensiv gewesen und nicht zu wiederholen. Macht sich die PEM schon während der Aktivität bemerkbar, ist diese zu unterbrechen. Dies erfordert immer wieder eine Menge Disziplin und Willenskraft.
Nicht selten tritt die PEM zeitverzögert auf, was die Zuordnung der auslösenden Aktivität erschweren kann. Symptomtagebücher, in denen neben dem Wohlbefinden auch die Aktivitäten des Tags notiert werden sowie Pulsmesser können helfen, die Zusammenhänge besser zu verstehen. Die persönliche Belastungsgrenze ist über die Zeit nicht gleichbleibend, sodass Pacing ein stetiges Anpassen an die neuen Umstände erfordert.16
Es gibt einen detaillierten Patienten-Leitfaden zur Vermeidung von Post Exertional Malaise (PEM). Weitere Artikel und Ratgeber zum Thema Pacing sind unter Videos & Dokumente im Abschnitt Krankheitsmanagement/Pacing zu finden.
- Bateman L. et al. (2014), Chronic fatigue syndrome and comorbid and consequent conditions: evidence from a multi-site clinical epidemiology study, Fatigue: Biomedicine, Health & Behaviour, DOI: 10.1080/21641846.2014.978109. ↩
- IOM (Institute of Medicine) (2015), Beyond myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome: Redefining an illness, Washington, DC: The National Academies Press, ISBN-13: 978-0-309-31689-7. ↩
- Stellungnahme der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „ME/CFS-Betroffenen sowie deren Angehörigen helfen – für eine bessere Gesundheits- sowie Therapieversorgung, Aufklärung und Anerkennung“ (Drucksache 20/4886). ↩
- Jason L. A. et al. (2009), CFS: A review of epidemiology and natural history studies, Bulletin of the IACFS/ME, 17(3): 88-106, PMID: 21243091. ↩
- Was ist ME/CFS?, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V. ↩
- Eine ausführliche Darstellung befindet sich u.a. auf der Website der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V.: www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/. ↩
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Carruthers B, van de Sande M (2005), Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: A Clinical Case Definition and Guidelines for Medical Practitioners, An Overview of the Canadian Consensus Document, The National Library of Canada, ISBN: 0-9739335-0-X;
Vollständige Deutsche Übersetzung: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom: Ein Überblick über das Kanadische Konsensdokument. ↩ - Was ist Long COVID?, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS ↩
- Scheibenbogen et al. (2018), Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome – Evidence for an autoimmune disease, Autoimmun Rev. 17: 601-609, DOI: 10.1016/j.autrev.2018.01.009. ↩
- Fluge Ø et al. (2017), Metabolic profiling indicates impaired pyruvate dehydrogenase function in myalgic encephalopathy/chronic fatigue syndrome, JCI Insight. 2016;1(21):e89376. DOI: 10.1172/jci.insight.89376. ↩
- Jason et al. (2020), Risks for Developing Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome in College Students Following Infectious Mononucleosis: A Prospective Cohort Study, Clinical Infectious Diseases, DOI: 10.1093/cid/ciaa1886. ↩
- Toogood et al. (2021), Myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS): Where will the drugs come from?, Pharmacological Research, Volume 165, DOI: 10.1016/j.phrs.2021.105465. ↩
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Im Überarbeitungsprozess der Leitlinie Müdigkeit der DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) wird das Krankheitsbild ME/CFS weiterhin falsch einordnet;
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM) (2017), S-3 Leitlinie Müdigkeit, AWMF-Register-Nr.053-002. ↩ - Grundlagenpapier #Millions Missing Deutschland, 05/2021, S. 4. ↩
- Vgl.: Aufklärung, Lost Voices Stiftung ↩
- Vgl.: Postvirale Fatigue nach einer Corona-Infektion: Kann man von ME/CFS lernen? Warnzeichen Belastungsintoleranz und die Bedeutung der Schonung, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS 2020, URL: www.mecfs.de/wp-content/uploads/2020/11/Postvirale-Fatigue_MECFS_Pacing.pdf. ↩