Long-Covid und ME/CFS

Das Long Covid Versteck-Spiel – ME/CFS beim Namen nennen

Von Angela Müller (anlässlich der Liegenddemo bei der Gesundheitsministerkonferenz am 6.Juli 2023)

Welch ein praktischer Begriff. Long Covid. Er eignet sich wunderbar, um das Versagen der Vergangenheit zu verbergen und um an alten Fehlern festhalten zu dürfen. Covid. So eine neue Krankheit, ist doch klar, dass wir da noch nichts machen können. Logisch, oder?

Nur ist Long Covid keine Krankheit. Es ist ein Sammelbegriff1 und nur soziologisch sinnvoll, um die Folgen der Pandemie für die Gesellschaft zu beschreiben. Das Massen-Behinderungs-Event,2 wie es in Kannada genannt wird. Medizinisch ist der Begriff nutzlos.

Long Covid, das kann ein Herz-, Gefäß- oder Lungenleiden sein. Oder ein Schaden nach intensivmedizinischer Behandlung. Das sind alles keine neuen Krankheiten. Es gibt bewährte Therapieansätze dafür. In den wenigsten Artikeln über Long Covid geht es daher um diese Krankheiten.

Nennen wir das Kind beim Namen. Der Schrecken von Long Covid heißt ME/CFS. Auch das ist keine neue Krankheit. Doch sie wurde und wird seit Jahrzehnten ignoriert. Nur deshalb können wir jetzt bei Long Covid nichts machen!

Was ist die Konsequenz? Wir machen Studien zu Long Covid. Super! Das ist wie eine Futtermittelstudie, die nicht zwischen Hühnern, Kühen oder Schweinen unterscheidet. Da kann nichts dabei herauskommen, denn es handelt sich ja um verschiedene Tierarten bzw. Krankheiten.
Aktivierung und Reha?
Klar, hilft bei Lungen- und Herzleiden.
Klar, schadet bei ME/CFS.
Solche Studien sind reine Geldverschwendung, da sie kein neues Wissen generieren. Sie helfen nur, Fehlbehandlungen, die korrekterweise Misshandlungen3 genannt werden sollten, fortsetzen zu können.

Herr Lucha und andere meinen, es werden schon ein paar Brosamen der Long Covid Forschung für Menschen mit ME/CFS abfallen. Das erinnert mich an den Trickle-down-Effekt, laut dem arme Menschen im Globalen Süden von Förderung für Konzerne profitieren sollen. Hat nie funktioniert und war immer nur eine Ausrede, um das Übel nicht an der Wurzel anzupacken.4
Umgekehrt funktioniert es. Menschen mit Long Covid profitieren von der Forschung für ME/CFS. Denn 10-50% von ihnen5 haben genau diese Krankheit, deren Name so oft nicht ausgesprochen werden darf. Sie haben ME/CFS oder eine Frühform davon – das macht beste Aussichten für die Zukunft. Denn wenn wir jetzt nicht massivst in Grundlagen-, aber vor allem in Therapieforschung investieren, haben sie dann in ein paar Jahren das Vollbild von ME/CFS. Und damit die Krankheit, die die Lebensqualität so stark einschränkt wie keine andere.6
So lange ME/CFS weiter ignoriert und nicht genannt wird, werden wir auch Postvac und Long Covid nicht heilen können.

Im März hat es im Gesundheitsausschuss des Landtages keine einzige Person geschafft den Namen Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom richtig auszusprechen. Meine Tante ist daher dafür, die Krankheit Nightingale zu nennen. Nach Florence Nightingale, die mit ME/CFS vom Bett aus das britische Krankenpflegewesen aufgebaut hat.7

Ich meine, wem der Name zu kompliziert ist, kann auch einfach ME sagen. ME wie MS. Das sind Schwesterkrankheiten. Beide neurologisch, beide vor allem weiblich und mit dem Epstein-Barr-Virus verbunden.
Und ja - auch MS war lange psychisch. MS erfüllt ja auch das Hauptmerkmal psychischer Krankheiten: Es sind v.a. jüngere Frauen betroffen. Tja, bis dann ein Labormarker gefunden wurde. Jetzt ist die Krankheit zwar leider noch nicht heilbar, aber es gibt 19 Medikamente und über 200 Anlaufstellen.8

Es gibt mit großem Abstand keine Krankheit, die - gemessen am Leidensdruck - so unterfinanziert ist wie ME.9
Ich sage es laut und deutlich: Die bisherige Forschungsförderung ist eine Schande. Die paar Medikamente, die für ein Jahr getestet werden können, sind schon lange ohne große Wirkung im off-Label Einsatz.

Es gilt keine Zeit mehr zu verlieren, um Dutzende erfolgversprechende Medikamente zu testen und zuzulassen. Um den ganzen Medizinbetrieb aufzuklären.
Um Versorgungsstrukturen aufzubauen.

Momentan ist ein Menschenleben mit ME/CFS 25 Euro wert.
Wenn nicht sofort mindestens 200 Millionen Euro in diese Aufgaben gesteckt werden, ist das unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge und Verfassungsbruch. Denn da steht: Jede*r hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.10
Für uns Menschen mit ME/CFS gilt das nicht.

Hinweis: Der folgende Text ist aus dem Jahr 2021. Aktuelle und detaillierte Informationen zu Long Covid und ME/CFS finden Sie auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.

Übersetzung der Fachbegriffe:

Da ME/CFS häufig durch eine Virusinfektion entsteht, ist zu erwarten, dass die COVID 19-Pandemie weltweit zu einem Anstieg von ME/CFS-Erkrankten führt.11 Bei der vergleichbaren SARS-CoV-Epedemie, die im November 2002 in Südchina ausbrach und sich ebenfalls innerhalb weniger Wochen über nahezu alle Kontinente ausbreitete, weisen Studien auf ein verstärktes Auftreten von ME/CFS hin. Zum Beispiel berichteten von 233 Hongkonger Krankenhaus-SARS-Überlebenden, die vier Jahre nach dem Virusausbruch untersucht wurden, 40% über ein chronisches Erschöpfungsproblem und bei 27% wurde ME/CFS diagnostiziert.12 Analog wies 2003 eine Kohorte von Beschäftigten des Gesundheitswesens in Toronto ME/CFS-Symptome auf und konnte nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.13

In einer aktuellen Studie der Charité Berlin14 wurden 6 Monate anhaltende Long-Covid-Verläufe untersucht. Bei der Hälfte der Erkrankten wurde ME/CFS gemäß den CCC diagnostiziert. Das häufigste Symptom war die Post-Exertional Malaise (PEM), sie war in 41 von 42 Fällen zu finden. Die meisten Untersuchten waren moderat bis schwer im alltäglichen Leben eingeschränkt. Der Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion war häufig mild und das Durchschnittsalter lag bei 36,5 Jahren. Frau Prof. Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Charité, schätzt, dass circa die Hälfte derer, die 6 Monate lang Long-Covid haben, die ME/CFS Diagnosekriterien erfüllen.15 Die postviralen Symptome nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion sind ME/CFS in jedem Fall sehr nahe und zu einem großen Teil identisch.

Auch wenn ein großer Teil der Medizin überrascht auf diese Entwicklung reagierte, war Long-Covid für Expert*innen und ME/CFS-Patient*innen absehbar. Auf Grund der sowohl gesundheitlichen als auch existentiellen Bedrohung von potentiell jedem/jeder durch Long-Covid steht das Thema im Mittelpunkt der Gesellschaft. Wir hoffen, daher, dass mit den Hilfen für Long-Covid auch für die große Subgruppe ME/CFS-Erkrankter endlich intensiv in die Erforschung der Krankheit und die Behandlung und Versorgung der Erkrankten investiert wird.
Beobachtet man den politischen Diskurs sowie die medizinische Behandlung von Long-Covid fällt, jedoch aktuell immer wieder auf, dass trotz identischer Symptome die Wahrnehmung der Ähnlichkeit zu ME/CFS oder gar das Wiedererkennen des vollen ME/CFS-Krankheitsbildes streng vermieden wird, obwohl sich die Übereinstimmung der beobachteten Krankheitssymptome schon für den Laien geradezu aufdrängt.16 Dies geschieht unter Inkaufnahme weiter anwachsender Fehlbehandlungen ME/CFS-Erkrankter durch Bewegungs- und Aktivierungstherapien und damit einhergehend der Verschlechterung der Krankheit. Wie die Erfahrungen mit ME/CFS lehren, ist angesichts fehlender ursächlicher Therapieoptionen aber gerade die frühestmögliche Erkennung und damit die Reduktion des Chronifizierungsrisikos besonders wichtig.

Long-Covid-Patient*innen aus dem englischen Sprachraum, die sich selbst „Long Haulers“ (zu dt. etwa „lang Verschleppende“) nennen, berichten leider, „dass ihre anhaltenden Symptome heruntergespielt werden. Ihnen wird gesagt, dass sie vielleicht übertreiben, sich etwas einbilden oder ihre lebensverändernde Krankheit sogar erfinden würden. Einfache körperliche Aktivitäten, wie z. B. das Aufstehen aus dem Bett, die Körperpflege, die Zubereitung einfacher Mahlzeiten und Duschen, können für einige erschöpfend sein. Nicht in der Lage zu sein, sich selbst und ihre Familien zu versorgen, nicht arbeiten zu können und Einkommen und möglicherweise die arbeitgeberabhängige Krankenversicherung zu verlieren, stellen zusätzliche Belastungen dar.“17

Es droht den Long-Covid-Patient*innen mit Symptomen des chronischen Fatigue-Syndroms offenbar die gleiche Stigmatisierung und Diskriminierung, wie sie ME/CFS-Erkrankte ohne Long-Covid schon seit Jahrzehnten erdulden und ertragen müssen.

Damit sich die Hoffnungen auf Wahrnehmung, Anerkennung, Erforschung, Versorgung und Behandlung der Krankheit durch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Long-Covid wirklich erfüllen, wird es daher weiterhin unseres gemeinsamen Engagements bedürfen.

  1. Immunologist Akiko Iwasaki: ‘We are not done with Covid, not even close’, The Guardian.
  2. Report says long COVID could impact economy and be 'mass disabling event' in Canada, CTV News.
  3. Klopfzeichen von Jonas: Seit neun Jahren ist ein junger Freiburger wegen ME/CFS ein Pflegefall , Badische Zeitung.
  4. Trickle-down-Ökonomie, Wikipedia.
  5. "Es gibt vier Hypothesen, was hinter Long Covid stecken könnte" (Interview mit Akiko Iwasaki), Zeit Online.
  6. Falk Hvidberg M et al (2015): The Health-Related Quality of Life for Patients with Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), DOI: 10.1371/journal.pone.0132421.
  7. Florence Nightingale & die Rolle der Frau in Bezug zur aktuellen Lage von ME/CFS, Carmen Katharina Stern im ME/CFS-Portal.
  8. Prof. Dr. Scheibenbogen im Fachgespräch: "Zukunft der ME/CFS-Versorgung in Deutschland", Minute 23:18.
  9. Women’s health research lacks funding – these charts show how, Nature.
  10. Grundgesetz, Artikel 2.
  11. Auch andere Infektionskrankheiten können ME/CFS bzw. ME/CFS-ähnliche Krankheitssymptome zur Folge haben, wie z.B. das Pfeifersches Drüsenfieber (Epstein-Barr-Virus-Infektion), Brucellose, Q-Fieber oder die Ebola- und die Ross-River-Virus-Infektion sowie die „gewohnte“ Grippe,
    vgl.: 17. (Levison: Was wir bisher über das Post-COVID-Syndrom wissen)
  12. Lam MHB, Wing YK, Yu MWM, et al (2009): Mental morbidities and chronic fatigue in severe acute respiratory syndrome survivors: long-term follow-up, Arch Intern Med 169:2142-2147,DOI: 10.1001/archinternmed.2009.384 .
  13. Moldofsky H., Patcai J (2011): Chronic widespread musculoskeletal pain, fatigue, depression and disordered sleep in chronic post-SARS syndrome; a case-controlled study, BMC Neurol 11:1–7, DOI: 10.1186/1471-2377-11-37
  14. C Kedor et al (2021), Chronic COVID-19 Syndrome and Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) following the first pandemic wave in Germany – a first analysis of a prospective observational study, Preprint von medRxiv, DOI: 10.1101/2021.02.06.21249256.
  15. i. Scheibenbogen: Viele Menschen werden chronisch krank sein, Deutschlandfunk (23.01.2021);
    ii. Hintergurnd: Post-Covid - Wenn Fatigue dazukommt, BR Wissen (07.04.2021).
  16. Perrin R, Riste L, Hann M et al (2020): Into the looking glass: Post-viral syndrome post COVID-19,  Med Hypotheses 144:110055, DOI: 10.1016/j.mehy.2020.110055.
  17. Matthew E Levison (2020), Kommentar: Was wir bisher über das Post-COVID-Syndrom wissen, MSD Manuals, URL (abgerufen am 01.09.2021, mittlerweile defekt): www.msdmanuals.com/de/heim/news/editorial/2020/09/24/19/01/post-covid-syndrome.
    Neue URL (28.11.2023): www.msdmanuals.com/de-de/profi/resourcespages/sars-cov-2-clinical-manifestations.

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