Long-Covid und ME/CFS

Übersetzung der Fachbegriffe:

Da ME/CFS häufig durch eine Virusinfektion entsteht, ist zu erwarten, dass die COVID 19-Pandemie weltweit zu einem Anstieg von ME/CFS-Erkrankten führt.1 Bei der vergleichbaren SARS-CoV-Epedemie, die im November 2002 in Südchina ausbrach und sich ebenfalls innerhalb weniger Wochen über nahezu alle Kontinente ausbreitete, weisen Studien auf ein verstärktes Auftreten von ME/CFS hin. Zum Beispiel berichteten von 233 Hongkonger Krankenhaus-SARS-Überlebenden, die vier Jahre nach dem Virusausbruch untersucht wurden, 40% über ein chronisches Erschöpfungsproblem und bei 27% wurde ME/CFS diagnostiziert.2 Analog wies 2003 eine Kohorte von Beschäftigten des Gesundheitswesens in Toronto ME/CFS-Symptome auf und konnte nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.3

In einer aktuellen Studie der Charité Berlin4 wurden 6 Monate anhaltende Long-Covid-Verläufe untersucht. Bei der Hälfte der Erkrankten wurde ME/CFS gemäß den CCC diagnostiziert. Das häufigste Symptom war die Post-Exertional Malaise (PEM), sie war in 41 von 42 Fällen zu finden. Die meisten Untersuchten waren moderat bis schwer im alltäglichen Leben eingeschränkt. Der Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion war häufig mild und das Durchschnittsalter lag bei 36,5 Jahren. Frau Prof. Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz der Charité, schätzt, dass circa die Hälfte derer, die 6 Monate lang Long-Covid haben, die ME/CFS Diagnosekriterien erfüllen.5 Die postviralen Symptome nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion sind ME/CFS in jedem Fall sehr nahe und zu einem großen Teil identisch.

Auch wenn ein großer Teil der Medizin überrascht auf diese Entwicklung reagierte, war Long-Covid für Expert*innen und ME/CFS-Patient*innen absehbar. Auf Grund der sowohl gesundheitlichen als auch existentiellen Bedrohung von potentiell jedem/jeder durch Long-Covid steht das Thema im Mittelpunkt der Gesellschaft. Wir hoffen, daher, dass mit den Hilfen für Long-Covid auch für die große Subgruppe ME/CFS-Erkrankter endlich intensiv in die Erforschung der Krankheit und die Behandlung und Versorgung der Erkrankten investiert wird.
Beobachtet man den politischen Diskurs sowie die medizinische Behandlung von Long-Covid fällt, jedoch aktuell immer wieder auf, dass trotz identischer Symptome die Wahrnehmung der Ähnlichkeit zu ME/CFS oder gar das Wiedererkennen des vollen ME/CFS-Krankheitsbildes streng vermieden wird, obwohl sich die Übereinstimmung der beobachteten Krankheitssymptome schon für den Laien geradezu aufdrängt.6 Dies geschieht unter Inkaufnahme weiter anwachsender Fehlbehandlungen ME/CFS-Erkrankter durch Bewegungs- und Aktivierungstherapien und damit einhergehend der Verschlechterung der Krankheit. Wie die Erfahrungen mit ME/CFS lehren, ist angesichts fehlender ursächlicher Therapieoptionen aber gerade die frühestmögliche Erkennung und damit die Reduktion des Chronifizierungsrisikos besonders wichtig.

Long-Covid-Patient*innen aus dem englischen Sprachraum, die sich selbst „Long Haulers“ (zu dt. etwa „lang Verschleppende“) nennen, berichten leider, „dass ihre anhaltenden Symptome heruntergespielt werden. Ihnen wird gesagt, dass sie vielleicht übertreiben, sich etwas einbilden oder ihre lebensverändernde Krankheit sogar erfinden würden. Einfache körperliche Aktivitäten, wie z. B. das Aufstehen aus dem Bett, die Körperpflege, die Zubereitung einfacher Mahlzeiten und Duschen, können für einige erschöpfend sein. Nicht in der Lage zu sein, sich selbst und ihre Familien zu versorgen, nicht arbeiten zu können und Einkommen und möglicherweise die arbeitgeberabhängige Krankenversicherung zu verlieren, stellen zusätzliche Belastungen dar.“7

Es droht den Long-Covid-Patient*innen mit Symptomen des chronischen Fatigue-Syndroms offenbar die gleiche Stigmatisierung und Diskriminierung, wie sie ME/CFS-Erkrankte ohne Long-Covid schon seit Jahrzehnten erdulden und ertragen müssen.

Damit sich die Hoffnungen auf Wahrnehmung, Anerkennung, Erforschung, Versorgung und Behandlung der Krankheit durch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Long-Covid wirklich erfüllen, wird es daher weiterhin unseres gemeinsamen Engagements bedürfen.

  1. Auch andere Infektionskrankheiten können ME/CFS bzw. ME/CFS-ähnliche Krankheitssymptome zur Folge haben, wie z.B. das Pfeifersches Drüsenfieber (Epstein-Barr-Virus-Infektion), Brucellose, Q-Fieber oder die Ebola- und die Ross-River-Virus-Infektion sowie die „gewohnte“ Grippe,
    vgl.: 7. (Levison: Was wir bisher über das Post-COVID-Syndrom wissen)
  2. Lam MHB, Wing YK, Yu MWM, et al (2009): Mental morbidities and chronic fatigue in severe acute respiratory syndrome survivors: long-term follow-up, Arch Intern Med 169:2142-2147,DOI: 10.1001/archinternmed.2009.384 .
  3. Moldofsky H., Patcai J (2011): Chronic widespread musculoskeletal pain, fatigue, depression and disordered sleep in chronic post-SARS syndrome; a case-controlled study, BMC Neurol 11:1–7, DOI: 10.1186/1471-2377-11-37
  4. C Kedor et al (2021), Chronic COVID-19 Syndrome and Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) following the first pandemic wave in Germany – a first analysis of a prospective observational study, Preprint von medRxiv, DOI: 10.1101/2021.02.06.21249256.
  5. i. Scheibenbogen: Viele Menschen werden chronisch krank sein, Deutschlandfunk (23.01.2021);
    ii. Hintergurnd: Post-Covid - Wenn Fatigue dazukommt, BR Wissen (07.04.2021).
  6. Perrin R, Riste L, Hann M et al (2020): Into the looking glass: Post-viral syndrome post COVID-19,  Med Hypotheses 144:110055, DOI: 10.1016/j.mehy.2020.110055.
  7. Matthew E Levison (2020), Kommentar: Was wir bisher über das Post-COVID-Syndrom wissen, MSD Manuals, URL: www.msdmanuals.com/de/heim/news/editorial/2020/09/24/19/01/post-covid-syndrome (abgerufen am 01.09.2021).

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