Am 05./06. Juli 2023 fand in Friedrichshafen im Graf-Zeppelin-Haus die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) der Länder statt, zu der auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu Gast war. Den Vorsitz hat in diesem Jahr turnusgemäß das Land Baden-Württemberg, also Sozialminister Manfred Lucha.
ME/CFS Initiative Baden-Württemberg
Ein Bündnis verschiedener baden-württembergischer Selbsthilfegruppen und Initiativen, wie z.B. die Initiative ME/CFS Freiburg, haben sich anlässlich der Konferenz zusammengeschlossen zur ME/CFS Initiative Baden-Württemberg, um den Ministerinnen und Ministern auch fernab der Hauptstädte am beschaulichen Bodensee zu zeigen, dass auch hier der medizinische Skandal fehlender Versorgung und gesellschaftlicher Ignoranz gegenüber ME/CFS real existiert und die Betroffenen sich trotz ihrer schweren Erkrankung zu Wort melden und um die Verbesserung ihrer Lage kämpfen.
Bereits im Vorfeld der Tagung hat die Initiative alle Gesundheitsminister angeschrieben und nochmals die prekäre Situation ME/CFS-Erkrankter und ihrer Familien beschrieben, ihre Forderungen in einem Positionspapier zusammengefasst und um ein Gespräch am 6. Juli vor Ort gebeten.
Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz
Gesundheitsminister Lucha hatte bereits bei der öffentlichen Beratung am 29. März '23 im Sozialausschuss des Landtags BW angekündigt, ME/CFS auf die Tagesordnung der GMK zu setzen. In einer Amtschefkonferenz am 3./4. Mai hatten alle Bundesländer einen seitens der Landesregierung Baden-Württemberg eingebrachten Antrag unterstützt. Am 6. Juli wurde dann erwartungsgemäß der vorbereitete Antrag auf der GMK beschlossen.
In diesem Beschluss der GMK fordern die Länder das Bundesgesundheitsministerium auf, „schnellstmöglich“ ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für Patientinnen und Patienten mit Langzeitfolgen von COVID-19 sowie ME/CFS zu schaffen, so wie es auch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung bereits seit 2021 vorsieht. Weiterhin wird gefordert zu prüfen, ob es möglich ist, für ME/CFS eine Chronikerpauschale sowie ein Disease-Management-Programm (DMP) einzuführen und ME/CFS in die Programme der ambulanten spezialärztlichen Versorgung mit einzubeziehen (ASV, § 116b SGB V). Das BMG soll dann am 22./23. November in der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) über die Ergebnisse berichten.
Liegendaktion
Nachdem zu Beginn der Demonstration geklärt war, dass Gesundheitsminister Lucha um 13:00 kommen wird, begann die Veranstaltung mit Musik, Redebeiträgen und Gedichten sowie der zentralen stillen Liegendaktion um die blaue Schleife.
Minister Lucha stellte in seiner 6-minütigen Rede die vier Punkte des GMK-Beschlusses vor und erwähnte speziell für BW, dass zur Aufklärung Gespräche mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KVBW) und der Landeärztekammer (LÄK) stattfinden würden sowie, dass mit Mitteln des Landes (Gesundheits- und Wissenschaftsministerium) der Auftrag zur Schaffung eines Netzwerks zur Versorgung und Erforschung bei den vier Uniklinika in Baden-Württemberg bestehe.
Nach seiner Rede lehnte es Minister Lucha mit der Begründung eines Folgetermins leider ab für ein Gespräch und Fragen zur Verfügung zu stehen.
Wir fragen uns:
Wieso müssen Ärzte in Baden-Württemberg, die schon ME/CFS-Kranke versorgen und das gerne erweitern wollen, weiter auf finanzielle Mittel des Landes und intransparente Prüfungsverfahren im Sozialministerium warten, um endlich starten zu können, z.B. die Kinderkliniken des Ortenaukreis in Offenburg und der Uniklinik Freiburg?
Und wieso sagt Klinikdirektor Prof. Michael Bamberg im Reutlinger General-Anzeiger v. 06.06.23, dass an allen 4 Uniklinika der Ausbau der PC-Ambulanzen wegen fehlender Mittel nicht möglich ist?
Prof. Bamberg: „Gerne hätte man an den Unikliniken die Post-Covid-Ambulanz ausgeweitet, um Patienten besser betreuen zu können, die unter solchen Symptomen – teilweise unklaren Ursprungs – leiden. Doch das ist ohne finanzielle Basis weder in Tübingen noch in Freiburg und Heidelberg und auch nicht in Ulm möglich, bedauern die Verantwortlichen.“1
Pressemitteilung lesen
Für die Demo wurde dieser Flyer erstellt, der auch über diese Veranstaltung hinaus von Bedeutung bleibt.
Und bei der Demo wurde das Lied "Nicht zu fassen", das die Betroffene Bonny komponiert hat, aufgeführt. Wir veröffentlichen hier den Text, die Akkorde (in C-Dur) und die Noten in C-Dur sowie G-Dur (G-Dur ist eine bessere Lage für Sopran und Tenor).
Das Long Covid Versteck-Spiel – ME/CFS beim Namen nennen
Von Angela Müller
Welch ein praktischer Begriff. Long Covid. Er eignet sich wunderbar, um das Versagen der Vergangenheit zu verbergen und um an alten Fehlern festhalten zu dürfen. Covid. So eine neue Krankheit, ist doch klar, dass wir da noch nichts machen können. Logisch, oder?
Nur ist Long Covid keine Krankheit. Es ist ein Sammelbegriff2 und nur soziologisch sinnvoll, um die Folgen der Pandemie für die Gesellschaft zu beschreiben. Das Massen-Behinderungs-Event,3 wie es in Kannada genannt wird. Medizinisch ist der Begriff nutzlos.
Long Covid, das kann ein Herz-, Gefäß- oder Lungenleiden sein. Oder ein Schaden nach intensivmedizinischer Behandlung. Das sind alles keine neuen Krankheiten. Es gibt bewährte Therapieansätze dafür. In den wenigsten Artikeln über Long Covid geht es daher um diese Krankheiten.
Nennen wir das Kind beim Namen. Der Schrecken von Long Covid heißt ME/CFS. Auch das ist keine neue Krankheit. Doch sie wurde und wird seit Jahrzehnten ignoriert. Nur deshalb können wir jetzt bei Long Covid nichts machen!
Was ist die Konsequenz? Wir machen Studien zu Long Covid. Super! Das ist wie eine Futtermittelstudie, die nicht zwischen Hühnern, Kühen oder Schweinen unterscheidet. Da kann nichts dabei herauskommen, denn es handelt sich ja um verschiedene Tierarten bzw. Krankheiten.
Aktivierung und Reha?
Klar, hilft bei Lungen- und Herzleiden.
Klar, schadet bei ME/CFS.
Solche Studien sind reine Geldverschwendung, da sie kein neues Wissen generieren. Sie helfen nur, Fehlbehandlungen, die korrekterweise Misshandlungen4 genannt werden sollten, fortsetzen zu können.Herr Lucha und andere meinen, es werden schon ein paar Brosamen der Long Covid Forschung für Menschen mit ME/CFS abfallen. Das erinnert mich an den Trickle-down-Effekt, laut dem arme Menschen im Globalen Süden von Förderung für Konzerne profitieren sollen. Hat nie funktioniert und war immer nur eine Ausrede, um das Übel nicht an der Wurzel anzupacken.5
Umgekehrt funktioniert es. Menschen mit Long Covid profitieren von der Forschung für ME/CFS. Denn 10-50% von ihnen6 haben genau diese Krankheit, deren Name so oft nicht ausgesprochen werden darf. Sie haben ME/CFS oder eine Frühform davon – das macht beste Aussichten für die Zukunft. Denn wenn wir jetzt nicht massivst in Grundlagen-, aber vor allem in Therapieforschung investieren, haben sie dann in ein paar Jahren das Vollbild von ME/CFS. Und damit die Krankheit, die die Lebensqualität so stark einschränkt wie keine andere.7
So lange ME/CFS weiter ignoriert und nicht genannt wird, werden wir auch Postvac und Long Covid nicht heilen können.Im März hat es im Gesundheitsausschuss des Landtages keine einzige Person geschafft den Namen Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom richtig auszusprechen. Meine Tante ist daher dafür, die Krankheit Nightingale zu nennen. Nach Florence Nightingale, die mit ME/CFS vom Bett aus das britische Krankenpflegewesen aufgebaut hat.8
Ich meine, wem der Name zu kompliziert ist, kann auch einfach ME sagen. ME wie MS. Das sind Schwesterkrankheiten. Beide neurologisch, beide vor allem weiblich und mit dem Epstein-Barr-Virus verbunden.
Und ja - auch MS war lange psychisch. MS erfüllt ja auch das Hauptmerkmal psychischer Krankheiten: Es sind v.a. jüngere Frauen betroffen. Tja, bis dann ein Labormarker gefunden wurde. Jetzt ist die Krankheit zwar leider noch nicht heilbar, aber es gibt 19 Medikamente und über 200 Anlaufstellen.9Es gibt mit großem Abstand keine Krankheit, die - gemessen am Leidensdruck - so unterfinanziert ist wie ME.10
Ich sage es laut und deutlich: Die bisherige Forschungsförderung ist eine Schande. Die paar Medikamente, die für ein Jahr getestet werden können, sind schon lange ohne große Wirkung im off-Label Einsatz.Es gilt keine Zeit mehr zu verlieren, um Dutzende erfolgversprechende Medikamente zu testen und zuzulassen. Um den ganzen Medizinbetrieb aufzuklären.
Um Versorgungsstrukturen aufzubauen.Momentan ist ein Menschenleben mit ME/CFS 25 Euro wert.
Wenn nicht sofort mindestens 200 Millionen Euro in diese Aufgaben gesteckt werden, ist das unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge und Verfassungsbruch. Denn da steht: Jede*r hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.11
Für uns Menschen mit ME/CFS gilt das nicht.
- Warum es an der Tübinger Uniklinik keine Post-Covid-Ambulanz gibt, Reutlinger General-Anzeiger. ↩
- Immunologist Akiko Iwasaki: ‘We are not done with Covid, not even close’, The Guardian. ↩
- Report says long COVID could impact economy and be 'mass disabling event' in Canada, CTV News. ↩
- Klopfzeichen von Jonas: Seit neun Jahren ist ein junger Freiburger wegen ME/CFS ein Pflegefall , Badische Zeitung. ↩
- Trickle-down-Ökonomie, Wikipedia. ↩
- "Es gibt vier Hypothesen, was hinter Long Covid stecken könnte" (Interview mit Akiko Iwasaki), Zeit Online. ↩
- Falk Hvidberg M et al (2015): The Health-Related Quality of Life for Patients with Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS), DOI: 10.1371/journal.pone.0132421. ↩
- Florence Nightingale & die Rolle der Frau in Bezug zur aktuellen Lage von ME/CFS, Carmen Katharina Stern im ME/CFS-Portal. ↩
- Prof. Dr. Scheibenbogen im Fachgespräch: "Zukunft der ME/CFS-Versorgung in Deutschland", Minute 23:18. ↩
- Women’s health research lacks funding – these charts show how, Nature. ↩
- Grundgesetz, Artikel 2. ↩