In Gedenken an Marc Kirch
† 17.09.2025
Eine schwere unheilbare Krankheit zerstörte sein Leben.
Marc war liebevoll, stets hilfsbereit und widmete sich anderen Menschen. Auch war er ein Kämpfer und hat sich nie unterkriegen lassen, auch nicht in schweren Zeiten.
Trotz seiner schweren Erkrankung hat er sich bis zur letzten Sekunde für das Sichtbarwerden der schweren neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS engagiert und ist für ihre Anerkennung und Erforschung eingetreten.
Er hat uns in seinem tief berührenden Abschiedssong ein kraftvolles Zeugnis seines beachtlichen Lebenswillens hinterlassen.
Wie Betroffene in fast allen Einrichtungen war auch Marc in einem Seniorenhaus in BW fehlender medizinischer Hilfe, falscher Pflege und einer Unterbringung mit grenzüberschreitender Geräuschkulisse ausgesetzt. Dies änderte sich leider nicht durch den Umzug in eine „rettende“, vermeintlich ME/CFS-geeignete Pflege-WG in Brandenburg.
Die jahrzehntelang völlig fehlende ME/CFS-Forschung und ihr nur schleichender Beginn, gekoppelt mit dem Ignorieren und Verkennen seiner Erkrankung, auch in der neuen Einrichtung, nahmen ihm schließlich auch die letzte Hoffnung auf eine Besserung seines nach 11-jähriger Krankheit seit Jahren unerträglich gewordenen Zustands.
Marcs Entscheidung zum assistierten Suizid hat uns bestürzt und tief erschüttert.
Nach all den negativen Erfahrungen waren wir zu unserem großen Bedauern jedoch leider außer Stande, ihm eine andere Sicht und eine Gewissheit auf Besserung zu vermitteln.
Da es sein bis zuletzt geäußerter Wunsch war, dass ME/CFS-Erkrankte in Zukunft die erforderliche Behandlung und Pflege erhalten, haben wir ihn mit allen Kräften darin unterstützt, seine verheerende Situation und sein Anliegen öffentlich zu machen und werden in seinem Geist unsere Arbeit fortsetzen.
In tiefer Trauer
Gerhard Heiner
Marc Kirch lebte 10 Jahre in Freiburg und stand mit uns vor allem wegen seines Engagements für ME/CFS in Kontakt. Wir begleiteten Ihn in seinen letzten Wochen. Seinem Wunsch folgend machen wir seinen Tod und dessen Umstände bekannt, damit sich etwas ändert, Nachfolgenden sein Los erspart bleibt und ähnlich Betroffenen hoffentlich umgehend geholfen wird.
Es ist eine der größten medizinischen Skandale unserer Zeit, dass ME/CFS-Erkrankte in einem der reichsten Länder der Erde wegen fehlender medizinischer Hilfe, falscher Pflege und einer fehlenden reizausschließenden Umgebung ihrem Leben ein Ende setzen wollen.
Unversorgt und ungeschützt verschlimmert sich bei vielen der Krankheitszustand ständig. Und es werden immer mehr, denen es nicht länger möglich ist, die Qualen ihrer Erkrankung ohne Hoffnung auf Besserung zu ertragen. Manche entscheiden sich, ihr Leben aktiv zu beenden.
Für immer mehr Schwerst-Betroffene wird dies zu einer denkbaren Entscheidung, weil sie von Politik und Gesellschaft im Stich gelassen werden; denn es gibt kaum Forschung, keine Medikamente, keine Versorgungszentren, jede Menge unwissende Ärzte, die ME/CFS nicht kennen und deshalb die Symptome als psychisch bedingt fehlinterpretieren und/oder Betroffene als Simulanten und Drückeberger abqualifizieren und demütigen.
Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) berichtet, dass es in den letzten ein bis zwei Jahren eine Zunahme von Anträgen auf Vermittlung einer Suizidassistenz, primär mit einer diagnostizierten ME/CFS, gab. Laut ihrem Referenten, Dr. Christian H. Sötemann, liegt beim Großteil der Antragstellenden ein fortgeschrittener Krankheitsverlauf vor: "Es wurde bereits vieles versucht, um die Beschwerden zu lindern – meist ohne nachhaltigen Erfolg." Diese „Versorgungslücke“ wird von den Betroffenen immer wieder klar benannt. Der entscheidende Beweggrund für einen begleiteten Freitod ist die Unerträglichkeit des Leidenszustandes auf lange Sicht und ohne Hoffnung auf Verbesserung.1
Hannes Berns Nachruf für seinen Freund und ehemaligen Zimmernachbarn Marc Kirch ist ein authentischer Bericht direkt aus dem Epizentrum der ME/CFS-Hölle, so unfassbar und unglaublich, wie der gesamte gesellschaftliche Umgang mit dieser Erkrankung und den davon Betroffenen.
Nachruf von Hannes Berns
Gedanken zum Tod meines Freundes, Weggefährten
und nimmer lebensmüden, kämpferischen ME-Bruders
„Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie sie die Schwächsten behandelt.”
Gustav Heinemann (ehemaliger Bundespräsident)
Marc ist tot.
Seine Betreuerin, die – auf Marcs ausdrücklichen Wunsch hin – der ärztlich und juristisch bewilligten Freitodbegleitung beiwohnte, hatte bis zuletzt gehofft, dass er die tödliche Infusion nicht aufdrehen würde.
Ich bin fassungslos.
Es fühlt sich absolut falsch an, dass ich jetzt noch lebe – und er tot ist.
Es ist falsch.
Wenn ich die Kraft hätte, die verantwortlichen Menschen aus der Politik zur Rechenschaft zu ziehen, die Marcs Tod, meinen heraufziehenden Tod und den Tod so vieler an dieser höllischen Erkrankung bereits Verstorbener und in Zukunft noch Sterbender mitzuverantworten haben – jeden einzelnen ME-Toten seit über 60 Jahren totalem Staatsversagen –, dann würde ich es sofort tun.
Es ist ein Menschheitsverbrechen, in gewisser Weise eine Form der Euthanasie, bei der sich niemand die Hände schmutzig macht und die "Drecksarbeit" der alternativlosen Selbsttötung, sei es durch eine nach endloser Qual in äußerster Verzweiflung und Aussichtslosigkeit getroffene Entscheidung zur kostenpflichtigen assistierten Freitodbegleitung oder durch einen verzweifelten Affektsuizid – am schwerstkranken und doch so lebenswilligen Menschen hängen bleibt. Im Fall des assistierten Suizids dreht dieser, völlig entkräftet und krankheitszermürbt, mit zittrigen Händen das Rädchen zur Einspeisung der tödlichen Infusion selbst auf, nachdem das staatliche Gesundheitssystem ihn durch jahrzehntelange Unterlassung, Ignoranz, ungeeignete und dadurch schädliche Pflegemaßnahmen sowie eine völlig unzureichende medizinische Behandlung an diesen Punkt getrieben hat und ein erlösender natürlicher Tod schlichtweg nicht mehr abzuwarten war.
Dabei soll an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass die historische Euthanasie im Nationalsozialismus ein staatlich organisierter, systematischer Massenmord an Menschen war, die als "lebensunwert" eingestuft wurden. Diese Menschen wurden aktiv und gewaltsam getötet – unter dem zynischen Vorwand einer vermeintlich humanitären "Gnadentat". In Wirklichkeit sollte damit jedoch einzig und allein die sogenannte "Volksgemeinschaft" von der zur bloßen Last degradierten Existenz dieser Menschen befreit werden, indem man sich durch ihre gezielte Tötung der ethisch, moralisch, menschlich und vor allem rechtlich gebotenen Pflicht zur Fürsorge, Versorgung und gemeinschaftlichen Finanzierung dieser Personengruppe entzog. Diese menschenverachtenden Verbrechen dürfen niemals auch nur ansatzweise verharmlost oder relativiert werden.
Dennoch erleben insbesondere die schwer- und schwerstbetroffenen ME-Erkrankten seit Jahrzehnten eine komplexe Form extremer systemischer Gewalt, die im Ergebnis nicht minder verheerend und verstörend ist. Wir müssen uns, wie bereits beschrieben, selbst töten, wenn wir es nicht mehr schaffen, uns durch das enge, kaum passierbare Nadelöhr des absoluten Endstadiums dieser oft so verheerend verlaufenden Erkrankung hindurchzuquälen – getrieben von einer aus tiefster Not geborenen, völlig kontrainstinktiven und bedrohlich anwachsenden Sehnsucht nach einer planbaren Erlösung im Tod als ultima ratio zur Beendigung dieser mitunter jahrzehntelang andauernden Folter, sofern uns der natürliche Tod nicht zuvorkommt. Es ist ein sich ausschließlich aus einer absoluten Ausweglosigkeit aufdrängender Todeswunsch, ja ein verstörender Drang, der perverserweise bis zum letzten Atemzug in einem unauflöslichen und innerlich zerreißenden Widerspruch zu unserer tiefen Lebensbejahung, unserem unauslöschlichen Lebenswillen – ja unserer unerschöpflichen Liebe zum Leben steht.
Wir sterben also nicht, weil uns aktiv jemand zur Selbsttötung zwänge oder uns gegen unseren Willen eine Todesspritze verabreicht würde, sondern weil wir machtlos einem System ausgeliefert sind, das unsere Krankheit nicht ernst nimmt, sie kleinredet, nicht behandelt und völlig unzureichend erforscht. Unser Tod ist – neben dem Nicht-mehr- Aushalten-Können unerträglicher körperlicher Qualen und dem zermürbenden seelischen Leid einer krankheitsbedingt erzwungenen, zutiefst lebensfeindlichen Dauerisolation – vor allem die Folge der einzementierten Untätigkeit eines Systems, das uns im Stich lässt. Es handelt sich also um perfide, passive Gewalt durch Unterlassung, Schweigen, Ignoranz, psychologische Fehldeutungen sowie jahrzehntelang verweigerte Hilfe – zurückgelassen im tödlichen Niemandsland.
Wobei auch das nur die halbe Wahrheit ist:
Wir erleben auch aktive Gewalt, wenn uns in Kliniken lebenserhaltende Maßnahmen verweigert werden (zum Beispiel das Anreichen sowie aktive perorale Einspeisen von Wasser oder jegliche Form künstlicher Ernährung), wenn wir gegen unseren Willen in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen werden, wenn uns in Pflegeeinrichtungen dringend erforderliche Hilfe bei der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse verweigert wird – mit der Begründung, man wolle uns aktivieren –, wodurch sich unser Zustand durch die erzwungene Überschreitung unserer Belastungsgrenze irreversibel verschlechtert, wenn man uns schädliche, ungeeignete Behandlungen aufnötigt oder wenn unser Leiden bagatellisiert und wir entmündigt werden.
All diese Formen der passiven und aktiven Misshandlung führen dazu, dass sich unser körperlicher und kognitiver Zustand vorübergehend oder dauerhaft erheblich verschlechtert. Im schlimmsten Fall endet dies tödlich – und das längst nicht mehr nur vereinzelt.
Diese Menschheitsverbrechen bleiben ungesühnt. Und sie geschehen weiterhin – täglich.
Neben der ausführlich dargestellten Unmenschlichkeit, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, wirkt es darüber hinaus besonders befremdlich und inkonsistent, dass die seit Dekaden staatlich praktizierte Ignoranz, Verleugnung, Vernachlässigung und Unterlassung im Umgang mit schwerstkranken ME-Patienten auch aus der Logik unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft heraus, die soziale Kosten für das Gemeinwesen und die Erwerbsunfähigkeitsquote stets so gering wie möglich zu halten versucht, keinerlei Sinn ergibt.
Allein im letzten Jahr (2024) wurden in Deutschland – trotz der extrem unzureichenden und absolut nicht bedarfsgerechten Versorgung und Behandlung von ME/CFS-Betroffenen – durch ME/CFS und Long Covid gesamtgesellschaftliche Kosten in Höhe von 63 Milliarden Euro verursacht (Arbeitsausfälle, Erwerbsunfähigkeit sowie damit einhergehende fehlende Steuereinnahmen, Pflegekosten und Sozialleistungen – sofern bewilligt – et cetera). Eine enorme staatliche Belastung und ein massiver Verlust für die Volkswirtschaft.
Anstatt uns angesichts der großen Zahl an ME/CFS- und Long-Covid-Betroffenen mit in der Gesamtsumme durchaus kostspieligen Almosen abzuspeisen – Almosen, die meist erst nach einem kräftezehrenden, entwürdigenden Kampf gewährt werden, aber letztlich nichts weiter bewirken, als den qualvollen Tod der Schwer- und Schwerstbetroffenen hinauszuzögern und den Leicht- und Moderatbetroffenen allenfalls ein deutlich verkürztes Leben mit stark eingeschränkter Lebensqualität zu gewähren, während sich der Staat gleichzeitig damit rühmt, sich um all jene zu kümmern, die völlig unverschuldet in höchste Not geraten sind, obwohl er gerade die ME/CFS-Betroffenen seit Jahrzehnten in Wahrheit brutal im Stich lässt –, sollte endlich ernsthaft und nachhaltig wirksam gehandelt werden.
Neben dringend nötigen Maßnahmen zur Verbesserung der pflegerischen Versorgung in der Übergangszeit muss der von Karl Lauterbach selbst geforderte Betrag von einer Milliarde Euro endlich in die biomedizinische Forschung investiert werden. Nur so können die genauen Pathomechanismen dieser Erkrankung entschlüsselt werden, sodass in der Folge Biomarker für eine frühzeitige Diagnose sowie gezielt wirksame, passgenaue Medikamente entwickelt werden können. Damit entstünde eine realistische Hoffnung auf Linderung des grässlichen Leidens, auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde, auf gesellschaftliche Teilhabe – und bestenfalls auf vollständige Heilung.
Die von ME geheilten oder zumindest medikamentös wirksam behandelten Menschen stünden dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung, was die Volkswirtschaft stärken und die sozialen Sicherungssysteme massiv entlasten würde.
Es ist also nicht nur ethisch im Sinne der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde sowie der rechtlichen Fürsorgepflicht des Staates gegenüber den ME-Erkrankten absolut geboten, sich der seit Jahrzehnten sträflich ignorierten und ihrem grausamen Schicksal überlassenen ME-Betroffenen endlich vollumfänglich anzunehmen – auch wenn sich daraus leider keine unmittelbar einklagbare subjektive Rechtsnorm ableiten lässt –, sondern darüber hinaus auch volkswirtschaftlich deutlich sinnvoller und kosteneffizienter, wie bereits dargestellt.
Realistisch betrachtet ist es vollkommen unbestritten und wird mittlerweile auch von den wenigen bedeutenden sachkundigen politischen Entscheidungsträgern anerkannt, die sich der katastrophalen Lage der ME/CFS-Betroffenen bewusst sind, dass die Pharmaindustrie weder gegenwärtig noch in Zukunft in großem Stil in die biomedizinische Erforschung von ME/CFS und die Entwicklung von Medikamenten investieren wird. Karl Lauterbach wies unlängst in mehreren Zeitungsinterviews darauf hin, dass ME/CFS für die Pharmaindustrie in einer "Todeszone" liege. Die Krankheit sei nicht selten genug, um als seltene Erkrankung mit hochpreisigen Medikamenten wirtschaftlich interessant zu sein, aber auch nicht häufig genug, um Massenprodukte zu ermöglichen. Erschwerend komme hinzu, dass ME/CFS keine einheitliche Erkrankung sei und kein einzelnes Medikament allen Betroffenen gleichermaßen helfen könne.
Da die Entscheidungen der Pharmaindustrie einzig und allein auf der kapitalistischen Rentabilitätslogik beruhen, fällt diese als Akteur demnach für die biomedizinische Erforschung von ME/CFS und die Entwicklung hochwirksamer Medikamente aus. Der Staat muss also selbst mittels großangelegter, aus dem Staatshaushalt finanzierter Investitionsprogramme in Forschung und Arzneimittelentwicklung dieser humanitären Katastrophe ein Ende setzen – er hätte es bereits vor 60 Jahren tun müssen. Dies müsste – angesichts der jahrzehntelangen und bis heute andauernden, völlig unzureichenden und rein symbolischen staatlichen Maßnahmen zur Erforschung von ME/CFS, die eher den sehr berechtigten Verdacht zynischer Augenwischerei erwecken, als ernstzunehmende gesundheitspolitische Verantwortung zu demonstrieren – nötigenfalls vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbare rechtliche Pflicht des Staates sein, denn auf seinen Schultern türmen sich die ME-Toten der letzten Dekaden mittlerweile weit in den Himmel hinein.
Wenn man sich ein transparentes Glas vorstellt und darin in Sedimenten abgeschichtet all die hoch hilfsbedürftigen und notleidenden, jedoch gesamtgesellschaftlich weitgehend ignorierten, marginalisierten, verdrängten oder gänzlich aufgegebenen Personengruppen visualisiert, so kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die schwer- und schwerstbetroffenen ME/CFS-Erkrankten den absoluten Bodensatz bilden. Die bereits erwähnte, so hoch angesetzte, grundgesetzlich garantierte und unantastbare Menschenwürde mag zwar offiziell auch für uns gelten – doch in unserer tagtäglich erlittenen, unvorstellbar grausamen Lebensrealität spiegelt sie sich in keiner Weise wider. Für uns – in unseren eigenen Körpern begrabene Überlebenskämpfer, gefangen in stockfinsteren Vegetierhöllen – besitzt sie letztlich nur den Wert einer hohlen, abgedroschenen Phrase.
In so einer Vegetierhölle lebten wir zweieinhalb Jahre zusammen, lieber Marc – Zimmer an Zimmer. Die Jahreszeiten rauschten draußen in unerreichbarer Ferne vorbei, während in unseren Zimmern nur Stillstand und ewige, eintönige Überlebensroutine den Tagesablauf bestimmten. Ein Tag fühlte sich dabei manchmal wie ein ganzes Leben an – so unendlich lang, obwohl nichts passierte. Manchmal verschwand er auch einfach unauffindlich im Nichts, so als hätte er nur eine Sekunde gedauert. Die meiste Zeit jedoch verschwamm alles zu einem einzigen, mal mehr, mal weniger vernebelten Bewusstseinsstrom, der nicht mehr in der linear fortschreitenden Zeit verankert schien.
Obgleich wir in unserer ambulanten Pflege-Wohngemeinschaft mit angeblicher 24-Stunden- Versorgung Zimmer an Zimmer lebten, konnten wir uns trotzdem in diesen Jahren fast nie sehen. Ich war vollständig an mein Bett gefesselt – und bin es bis heute. Du kamst selten für wenige Minuten in mein Zimmer gerollt, positioniertest deinen Rollstuhl mühsam im Dunkeln an meiner Bettkante, und so sprachen wir sehr leise einige kurze Sätze miteinander. Du konntest dich in deinem Rollstuhl kaum aufrecht halten, und manchmal, wenn du deine absolute Belastungsgrenze versehentlich überschritten hattest, schafftest du es nur noch mit allerletzter Kraft und nach Luft ringend zurück in dein Bett – dann warst du oft tagelang komplett außer Gefecht gesetzt und brauchtest über viele Stunden hinweg künstlichen Sauerstoff.
Wir hatten immer Angst, dass die Pflegedienstmitarbeitenden diese seltenen Besuche in meinem Zimmer mitbekommen könnten – egal, ob wir ein paar Minuten miteinander flüsterten oder du mir selbstlos in Notsituationen unter Aufbringung deiner letzten Kräfte Kühlelemente brachtest –, weil sie diese zufälligen Beobachtungen immer nutzten, um dir Simulantentum und Faulheit zu unterstellen und um dir langandauernde Pflegemaßnahmen im Bad aufzunötigen, obwohl du dazu körperlich nicht mehr in der Lage warst. Du hast dich schließlich – zum Schutz deiner winzigen Restautonomie – verweigert, aus der absolut begründeten Angst heraus, durch eine erzwungene, langandauernde Überschreitung deines Belastungslimits völlig lebensunfähig zu werden.
Da sie dir nicht glaubten, ließen sie dich guten Gewissens im Pflegebett verwahrlosen, verweigerten dir lange die basalste Grundpflege im Bett, weil sie in ihrer überheblichen Anmaßung unbelehrbar daran festhielten – wider besseres Wissen, denn deine Diagnose war eindeutig und ärztlich gestellt –, dich aktivieren und erziehen zu müssen, um keine dir beharrlich angedichtete "Faulheit", "gelernte Hilflosigkeit" oder gar "depressive Selbstaufgabe" zu fördern. Als würde sich irgendjemand freiwillig von einer wildfremden Person im Bett waschen lassen wollen, wenn es irgendwie vermeidbar wäre. Ihre in Bezug auf dich in Stein gemeißelte Überzeugung, ein schwerstkranker Mensch würde sich aus reiner Bequemlichkeit und Faulheit im Bett waschen lassen wollen – und dies sogar genießen –, offenbarte ihr zutiefst verstörendes Menschenbild, das dein Autonomiebedürfnis, Schamgrenzen und existenzielle Not nicht nur verkannte, sondern deren Existenz schlicht leugnete. Häppchenweise erklärten sie sich gönnerhaft nach vielen Monaten der totalen körperlichen Vernachlässigung und der damit einhergehenden zunehmenden Verwahrlosung auf äußersten Druck von außen dazu bereit, dich auch im Bett zu pflegen. Gleichzeitig ließen sie dich jedoch bis zum Schluss spüren, dass sie es nur äußerst widerwillig taten, da sie dich – ohne jede Grundlage – als manipulativ, verwöhnt und respektlos abstempelten und die Grundpflege im Bett weiterhin als medizinisch nicht gerechtfertigt betrachteten. Unverhohlen gaben sie dir immer wieder zu verstehen, dass sie dich im Falle einer weiteren – aus ihrer Sicht simulierten – irreversiblen Verschlechterung deines Gesundheitszustandes nicht noch umfassender pflegen würden. Du lebtest deshalb in ständiger Angst, sie könnten dich einfach bewegungsunfähig im Bett liegen lassen oder dich in ein Krankenhaus einweisen – beides hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein sehr qualvolles Sterben bedeutet.
Ich musste all das hilf- und machtlos von meinem Zimmer aus hinter der geschlossenen Tür miterleben – und glaube mir, Bruder: Es hätte mich seelisch fast zerstört, nicht eingreifen zu können. Und doch waren wir immer füreinander da, stützten uns gegenseitig – seelisch, moralisch, und du mich, einseitig, in winzigen Dosen sogar körperlich. Gemeinsam trugen wir uns irgendwie durch dieses Grauen hindurch.
Eines Nachts wurde ich dann, nach monatelanger minutiöser Planung, im stark sedierten Zustand von zwei Rettungssanitätern und einem Notarzt in einer Schleiftrage aus meinem Zimmer geholt und unter notärztlicher Aufsicht per Liegendtransport im Rettungswagen aus dieser Hölle zu meiner Lebenspartnerin gebracht, während du aufgrund des Unwillens und der Nicht-Bereitschaft deiner Angehörigen dich aus dieser völlig ungeeigneten und grausamen Unterbringung zu befreien zurückbleiben musstest. Auch sie glaubten dir weder deine Erkrankung noch nahmen sie es ernst, als du ihnen offenbartest, was dir alles Grausames angetan wurde.
Es war bis zu deinem Lebensende nicht möglich, eine geeignete Unterbringung und eine 24- Stunden-Assistenz für dich durchzusetzen – wenngleich einige gesetzliche Betreuer, die deine Not erkannt hatten und dich darin sehr ernst nahmen, sich bis zum Schluss unermüdlich dafür einsetzten.
Staatsversagen.
Dein jahrelanger, beherzter Einsatz für die ME/CFS-Community – aus dem in Dunkelheit und Stille eingefrorenen Krankenbett heraus – war und bleibt ein großer, unschätzbarer Beitrag zur Sichtbarmachung dieser Höllenkrankheit, insbesondere im Hinblick auf den katastrophalen politischen und gesellschaftlichen Umgang mit ihr.
Wir werden deinen Kampf – dein Vermächtnis – in unseren kollektiven Kampf aufnehmen und ihn in deinem Sinne fortsetzen.
Bis – hoffentlich – eines Tages ein Hoffnungsschimmer für alle gegenwärtigen und zukünftigen ME-Notleidenden am Horizont aufscheinen wird.
Dieser Hoffnungsschimmer wird untrüglich auch dein Gesicht tragen – unauslöschlich.
In meinem Herzen zünde ich eine Kerze für dich an, lieber Marc, und weiß, dass du mir in deiner manchmal so unvergleichlich trockenen Art für diesen Beitrag mit letzter Kraft ein zustimmendes "Daumen-hoch-Emoji" und eine zum Widerstand geballte Faust – als Emoji – geschickt hättest.
In unseren Erinnerungen lebst du weiter, lieber Marc, und ich hoffe sehr, dass du an jenem Ort, wo du jetzt verweilst, von diesen entsetzlichen Qualen befreit bist.
Fühl dich umarmt.
Dein Hannes
Nachruf als PDF
Mehr über Marc Kirch
- Lied von Marc Kirch: Im Dunkel
- Artikel vom 17.08.2025: Leben in Dunkelheit und Stille – warum Marc Kirch seinen Suizid plant (MOZ.de)
- Artikel vom 08.10.2025 „Kein Leben mehr“: Wie die Krankheit ME/CFS einen Freiburger verzweifeln ließ – und viele andere auch (chilli magazin)
Auszüge aus Marcs offenem Brief an die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Bundesregierung vom 29. Juli 2025:
Hallo Ihr alle draußen auf der Welt,
ich heiße Marc Kirch und komme aus Bernau bei Berlin. Ich habe seit 11 Jahren ME/CFS und seit 8 Jahren die Diagnose ME/CFS:
Liege seit 2 Jahren in einem abgedunkelten Raum. Muss eine Augenmaske und Gehörschutz aufhaben um mich vor den Außenreizen zu schützen. Ich bin 51 Jahre und habe mir so ein Leben nicht vorstellen können.
Es ist so traurig, dass es keine Forschung und Hilfe für uns gibt und ich somit mir als Alternative nichts übrig bleibt als der Freitod, weil das Leben mit schwerster ME/CFS nicht aushaltbar ist.Ich würde so gerne wieder rausgehen können und unter Menschen. Das ist leider nicht mehr möglich, weil die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt.
Möchte gerne erleben, wenigstens für die nachfolgende Generation, dass diese Erkrankung als körperliche Erkrankung anerkannt wird und sie Hilfe durch Medikamente bekommen und nicht immer wieder in die Psycho Ecke gedrückt wird wie von Euch der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
Kinder liegen in ihren Betten oder sind hausgebunden. Müssen von den Eltern versorgt werden. Dadurch hat selbst die Familie kein richtiges Leben mehr. Kinder und wir Erwachsenen wollen wieder Sachen erledigen können ohne fremde Hilfe.
Betroffene Kinder können nicht mal mehr in die Schule gehen, Freunde treffen, ihren Hobbys nachgehen und so weiter.Liebe Regierungen und Leute der DGN nehmt die Erkrankung bitte ernst und fangt an mehr Gelder frei zu geben.
Wir Erkrankten wollen nicht leiden, wir wollen gesund werden, uns wieder mit Freunden treffen, in den Wald gehen können, oder einfach nur auf den Balkon die Sonne genießen.
Aber dies ist leider bei schwerer ME nicht mehr möglich.Ihr Politiker und Leute von der deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) solltet mal zwei Tage so leben müssen mit einem Gehörschutz und Augenmaske in einem dunklen Raum. Dann würdet Ihr ganz schnell ein anderes Leben haben wollen und hoffentlich dann auch einsehen, dass Gelder sofort freigegeben werden müssen.
Ihr von der DGN solltet endlich bitte aufhören die Erkrankung als psychisch mit einzustufen.
Übrigens die Erkrankung ME/CFS wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als neurologische Erkrankung seit 1969 anerkannt. Seit Ende 2019 hat die EU einen Beschluss gefasst, dass die europäischen Mitgliedsstaaten für Anmerkungen, Versorgung und Forschung zu ME/CFS in Ihren Ländern zu sorgen haben.
Also unternehmt bitte alle jetzt was, endlich!
Marc Kirch
- Die Unerträglichkeit des Leidens, Humanistischer Pressedienst, 29. August 2025. ↩︎
