Anlässlich des Welt-ME/CFS-Tages (12.Mai) veranstaltete die Initiative ME/CFS Freiburg am Samstag, den 11. Mai, am Platz der Alten Synagoge (Freiburg) eine Großkundgebung mit LiegendDemo. Diese fand gemeinsam und zeitgleich mit Demonstrationen in 11 weiteren Städten statt, welche durch die Initiative LiegendDemo bundesweit initiiert wurden. Mitorganisiert haben ebenfalls Mitglieder der Selbsthilfegruppe Freiburg und das ME/CFS-Netzwerk Baden-Württemberg.
Etwa 300 Personen kamen nach Freiburg, um für eine Verbesserung der prekären Lage ME/CFS-Betroffener zu protestieren und auf die Krankheit aufmerksam zu machen. Dank großer Banner, Schildern der Demonstrant*innen und einem Informationsstand war das Anliegen der Demonstrierenden kaum zu übersehen. Die Demonstration begann um 13 Uhr und hatte ein vielseitiges Programm mit Reden eines Arztes und eines Wissenschaftlers sowie Wort-, Gedicht- und Gesangsbeiträgen von Betroffenen und Angehörigen. Zwischen den Beiträgen fand eine Liegendphase statt, die die Belastung und Hilflosigkeit von chronisch kranken Menschen hervorhob. In der Mitte des Platzes war zudem eine blaue, 80m lange Schleife als Symbol für die Solidarität mit den schwer und schwerst chronisch ME/CFS-Erkrankten ausgelegt.
Überschattet wurde die Veranstaltung durch einen Trauerfall. Am 5.Mai ist Leila im jungen Alter von nur 21 Jahren an ME/CFS verstorben. Im Gedenken an sie wurden in der Mitte der Schleife blaue Blüten in einem Herz aus Kerzen platziert. Daneben stand ihre Traueranzeige.
Forderungen
Wir fordern die Erforschung, soziale Sicherung und Anerkennung von ME/CFS. Dazu gehört:
- Anerkennung von ME/CFS als körperlich schwere Erkrankung
- Übernahme von Diagnose- und (Off-Label-) Medikamentenkosten
- Ausbau der biomedizinischen und klinischen Forschung
- Aufnahme von ME/CFS in den universitären Lehrplan
- Durchführung von Fortbildungs- und Aufklärungskampagnen
- Flächendeckende ambulante Grundversorgung in den Arztpraxen und Telemedizin für Erkrankte
- Forschung unter Einbeziehung von PEM und ME/CFS in ALLEN Studien zu Long Covid
- Versorgung durch ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für ME/CFS und andere postinfektiöse Krankheiten (Koalitionsvertrag)
Da es der Gesundheitszustand vieler ME/CFS-Erkrankter nicht erlaubt, selbst auf der Demonstration zu erscheinen, wurden von ihnen hunderte Botschaften in Form von Bildern und Texten gesammelt und auf dem Platz präsentiert. Die Berichte, Wünsche und Forderungen der teilweise seit Jahrzehnten erkrankten Menschen unterstreichen die Dringlichkeit einer erheblichen Verbesserung in allen Bereichen. Bei den Passant*innen sorgten die Botschaften für großes Interesse - viele blieben stehen um die Botschaften zu lesen und kamen so mit uns ins Gespräch.
Video
Die Demonstration wurde live gestreamt und aufgenommen. Dieses Kurzvideo vermittelt einen Eindruck von der Veranstaltung:
Kurzvideo zur Kundgebung ansehen
Außerdem veröffentlichen wir eine Aufnahme des gesamten Programms, sodass Sie sich die ergreifenden Reden anhören können:
Video der gesamten Kundgebung ansehen
Zusammenfassung des Programms
Das Programm begann mit einer kurzen Eröffnung durch Gerhard Heiner, der als Moderator in Erscheinung trat.
Der erste Redebeitrag kam vom Chefarzt der Kinderklinik Ortenau, Prof. Dr. P. Gerner. Er schilderte aus eigener Erfahrung, dass ME/CFS unter Mediziner*innen noch zu viel zu unbekannt ist. Er und viele Kolleg*innen erführen im Regelfall erst durch gut informierte Patient*innen von der Krankheit. Er kritisierte auch den systemischen und extremen Mangel an Versorgungsinfrastruktur für ME/CFS-Betroffene.
Hiervon konnte auch der nächste Redner, Christian berichten. Er pflegt seit 10 Jahren — weitgehend alleine — seinen schwerst ME/CFS-erkrankten erwachsenen Sohn Jonas. Beeindruckend schilderte er die dramatischen Folgen von ärztlichen Fehlbehandlungen, Jonas' ungebrochenen Lebenswillen und die Auswirkungen der Belastung auf seine eigene Gesundheit und die Gesundheit seiner ebenfalls an ME/CFS erkrankten Frau.
Im Anschluss berichtete die Mutter eines schwerst erkrankten Kindes vom unfassbaren Vorgehen des Jugendamtes. Diese versucht, die Schulpflicht durchzusetzen, obwohl der Gesundheitszustand des Kindes einen Schulbesuch in keinster Weise zulassen würde. Anstatt der vorliegenden ärztlichen ME/CFS-Diagnose zu glauben, unterzog das Jugendamt das schwer erkrankte Kind und die Eltern einer Art Verhör in dessen Schlafzimmer. Eine extreme Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes war die Folge.
In der folgenden Liegendphase der Demonstration versammelten sich symbolisch Angehörige liegend an der blauen Schleife, um die große Zahl der ME/CFS-Betroffenen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen — ein Bild, das bei dieser Erkrankung ansonsten fehlt. Währenddessen trug Kirsten ein Gedicht einer Betroffenen vor.
Den zweiten Teil der Veranstaltung begann Dr. Lukas Horstmeier vom Villingen Institute of Public Health. Er fasste erste Ergebnisse einer groß angelegten Studie zusammen, die die Versorgungslage für ME/CFS-Erkrankte untersucht hat. Er zeichnete ein katastrophales Bild vom Regelfall der Patient*in, die von ihrer Ärzt*in nicht ernst genommen und mit der schweren Krankheit alleingelassen wird.
Danach verlas Janis einen Text seiner an ME/CFS erkrankten Mutter, die differenziert darlegt, wie in der öffentlichen Debatte und in der Wissenschaft häufig der Begriff "Long Covid" anstelle von "ME/CFS" verwendet wird. In der Regel wird bei Long-Covid-Versorgung und -Forschung die Krankheit ME/CFS vernachlässigt, obwohl sie zu den schwersten Folgen von Corona gehört und nicht heilbar ist. Und in den Fällen, wo ME/CFS bei Long-Covid mitgedacht wird, beschränkt sich das oft auf ME/CFS nach Corona. ME/CFS-Erkrankte, bei denen die Krankheit einen andern Auslöser hatte und die teilweise schon seit Jahrzehnten auf Hilfe warten, werden vergessen. Zudem hat die Wahl des falschen Begriffs erhebliche negative Folgen für die Qualität der Forschung für beide Krankheitsbilder.
Es folgten mehrere Texte einer jungen Ärztin, die nach Corona ME/CFS entwickelte. Sie berichtete, wie sie gegen die Versicherung ankämpfen musste und dass sie sich von den Zuständen an Aidsleugner in Südafrika erinnert fühlte. Die Texte wurden von ihrer Freundin Julia vorgetragen.
In dem darauffolgenden Lied "Nicht zu fassen" schildert die an ME/CFS erkrankte Bonny ihre persönlichen Erfahrungen mit der Krankheit. Da sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht selbst da sein konnte, wurde das Lied von zwei anderen Musikern aufgeführt.
Unter dem Titel "ME/CFS kills" folgte ein eindrücklicher Vortrag der Sprecherin der ME/CFS-Selbsthilfe Freiburg zum Thema Tod und ME/CFS. Bei ME/CFS gibt es zwei besonders hervorzuhebende Todesursachen. Einerseits kann die Krankheit selbst immer schlimmer werden. Die immer niedriger werdende Belastungsfähigkeit des Körpers reicht erst nicht mehr aus, um Nahrung aufzunehmen, und schließlich nicht einmal mehr, um diese zu verdauen. Die andere Ursache folgt aus der Schwere der Krankheit in Kombination mit der schlechten medizinischen Versorgung und dem Forschungsmangel. Nach Jahren und Jahrzehnten, in denen sich nichts gebessert hat, ertragen manche Erkrankte das Leid nicht länger und sie entscheiden sich für Suizid.
Die nächste Rednerin, Birte Viermann, hatte in der eigenen Familie einen ME/CFS Suizid erlebt. Ihre Schwester Silja war lange Zeit an ME/CFS erkrankt und hatte sich schließlich für Sterbehilfe entschlossen.
Birte berichtete davon, wie es war, ihre Schwester zu pflegen. So viele Emotionen und Bedürfnisse müssen von den Erkrankten aber auch den Pflegenden unterdrückt werden, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu vermeiden. Birte hatte so viel zu tun, dass sie damals gar nicht wusste, dass es Patient*innen-Organisationen gibt, die versuchen, auf das Problem aufmerksam zu machen und sie hätte damals auch nicht viel machen können. Zwei Jahre hat es nach dem Tod von Silja gebraucht, bis Birte langsam wieder zurück ins normale Leben fand. Mittlerweile hat sie ein Buch1
über ihre Geschichte geschrieben.
Der nächste Beitrag kam von Milena: Sie stellte das "Pacing-Team" vor. Hier geht es darum, ME/CFS-Erkrankte mit Nachbar*innen, die helfen möchten zu vernetzen, um so die Versorgung der Erkrankten zu verbessern und ggf. die Belastung der Angehörigen etwas senken zu können. Das Team sucht noch fleißig Unterstützung. Man muss keine Profi sein, es geht oft um niedrigschwellige Hilfeleistungen, die jede*r leisten kann - wie z.B. einkaufen.
Die folgenden beiden Redebeiträge kamen von zwei Angehörigen der erst kürzlich, am 5. Mai, an ME/CFS verstorbenen Leila. Ihre Schwester Jenny schilderte die Schwere von Leilas Symptomen. Leila lebte zum Schutz vor Geräuschen in einem eigens dafür schallisolierten Kellerraum, immerzu liegend im Bett. Leilas langjähriger Partner Paul begann seine Rede mit dem Text, den er vor dem Tod von Leila vorbereitet hatte. Er erzählte von seinem Wunsch, so viele Dinge gemeinsam mit Leila zu erleben - ein Traum, der in Erfüllung gegangen wäre, wenn sich Leilas Gesundheitszustand verbessert hätte. Nun sind diese Träume gemeinsam mit Leila gestorben.
Es folgte eine Gedenkminute für Leila und all die anderen Menschen, die ihr Leben leidvoll an ME/CFS lassen mussten.
So schloss das Programm und es folgte ein musikalischer Ausklang mit einem Handpan-Duo.
Wofür steht ME/CFS?
Die Myalgische Enzephalomyelitis, verharmlosend auch nur Chronisches Fatigue-Syndrom genannt, und unter ME/CFS seit 1969 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieben und als organische Erkrankung klassifiziert, ist eine schwere neuroimmunologische Krankheit, die meist nach viralen Infekten wie COVID, Influenza oder Epstein-Barr-Virus (Pfeiffersches Drüsenfieber) ausgelöst wird. ME/CFS tritt aber auch als PostVac auf und wurde als Postvirales Fatigue-Syndrom ME/CFS (ICD: 8E49) neu benannt und eingestuft. Kernmerkmal ist die teils dauerhafte Verschlechterung der Beschwerden nach (leichten) Alltagsanstrengungen, d.h. die Post-Exertional-Malaise (PEM), die von Betroffenen als Crash beschrieben wird: eine massive körperliche Entkräftung, meist verbunden mit gleichzeitigen immunologischen und neurologischen Symptomen, wie z.B. Brainfog (Gehirnnebel), Licht-, Geräusch- und Geruchsempfindlichkeit, Grippegefühl, verschiedenste Schmerzen, Schwindel, Herzrasen, Schlafstörungen u.v.m. Schätzungsweise über 60 % der Betroffenen sind arbeitsunfähig. Ein Viertel aller Patient*innen kann das Haus nicht mehr verlassen. Sie leiden an einem hohen Grad der Behinderung und bei schwerst Betroffenen fehlt jegliche Lebensqualität: hausgebunden, bettlägrig in abgedunkelten und schallgeschützten Zimmern dahinvegetierend, fast immer ohne jede ärztliche Versorgung ertragen sie weder Sprechen noch Berührung und sind auf die Pflege von Familienangehörigen 24/7 angewiesen.
Auch in Freiburg und Umgebung gibt es leider viele Fälle schwerster ME/CFS, wie beispielsweise Jonas (27), der seit 10 Jahren mit ME/CFS im Bett liegt. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) waren 2021 schon 500.000 Menschen betroffen. Durch ME/CFS als Folge und schwerste Form von Long-/Post Covid dürfte die Zahl der ME/CFS-Betroffenen inzwischen auf ca. 1 Million gestiegen sein. Für diese chronisch Kranken gibt es in Deutschland nur zwei regionale Anlaufstellen in Berlin und München und kein einziges zugelassenes Medikament.
Da die Krankheit trotz ihrer Häufigkeit bei Ärzt*innen kaum bekannt ist, u.a. weil sie im medizinischen Curriculum nicht vorkommt, sind „Medical Gaslighting“, d.h. ärztliches Absprechen und Bagatellisieren der Symptome, Fehldiagnosen und schädliche Behandlungen die Regel. Angesichts der anhaltenden Ignoranz und der Fehlbehandlungen, gerade auch in Reha- Kliniken, sowie der Bedrohung von Eltern von ME/CFS-erkrankten, entkräfteten Kindern mit Inobhutnahmen und Sorgerechtsentzug und der immer noch fehlenden Aufklärungskampagne für die Öffentlichkeit und die Ärzteschaft ist trotz der Verdoppelung der ME/CFS-Kranken durch die Corona-Pandemie bei Politikern und in der Ärzteschaft überwiegend weiteres Verharren und immer noch viel zu wenig Veränderungsbereitschaft zu erkennen.
Schlusswort
Wir brauchen keine Verkündungsmedizin mit verheißungsvollen Namen, wie EPILOC, MOVE-COVID-BW oder SEVEN PCS, die ME/CFS zum Teil gar nicht erwähnen und damit
präpandemisch ME/CFS-Erkrankte erneut im Stich lassen. Ohne die Hunderttausende von
ME/CFS-Kranken in den Mittelpunkt von Forschung und Versorgung zu stellen und ohne eine
öffentliche ME/CFS-Kampagne bleiben diese Projekte weitgehend Symbolpolitik und Alibi mit
viel Ankündigung, wenig Umsetzung und damit einhergehend bleiben sie eine Fortsetzung der
skandalösen Verweigerung medizinischer Hilfe für die vielen ME/CFS-Erkrankten ohne
vorausgegangene und nachgewiesene Coronaerkrankung.
Wir fordern daher ein Ende der ME/CFS-Versorgungswüste u.a. durch den Aufbau der schon
lange versprochenen ME/CFS-Kompetenzzentren mit interdisziplinärer Versorgung,
Forschung und Behandlung und die Einrichtung eines Runden Tischs in Baden-
Württemberg. Dies könnte die schreckliche Entfremdung zwischen Politik und Medizin
einerseits und den Betroffenen und ihren Organisationen andererseits endlich überwinden. Es
geht darum, den jahrzehntelang ignorierten Hilfebedarf gemeinsam anzuerkennen und die zu
seiner Bewältigung erforderlichen Maßnahmen zügig umzusetzen, um die große Not der
Betroffenen endlich zu lindern.
Die Verleugnung und Psychologisierung von ME/CFS ist der größte Skandal des letzten
Jahrhunderts in der Medizin, dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist.
Weil Ärzteschaft und Politik uns immer noch nicht spürbar helfen, gibt es nur noch den Weg an
die Öffentlichkeit, um die vergessenen Opfer dieser leisesten humanitären Katastrophe
endlich bekannt zu machen, bevor unsere Lebenszeit verstreicht.
- Birte Viermann: "Liebe Silja, ...: Meine Schwester, eine unerforschte Krankheit und ein Tod, der das Leben ehrt", ISBN-13: 978-3757801441. ↩