Die EPILOC-Studie - eine verpasste Chance
EPILOC-Studie bestätigt hohe Prävalenz von Long COVID und ME/CFS-Symptomen nach Coronainfektion
Die vom Land Baden-Württemberg mit 2,3 Millionen Euro geförderte EPILOC-Studie zu neu auftretenden und anhaltenden Symptomen nach einer SARS-CoV-2-Infektion ist als Preprint erschienen. Untersucht wurde eine große Stichprobe (N=11.700) retrospektiv 6 bis 12 Monate nach COVID-19. Die Untersuchung fand in den Regionen Freiburg, Ulm, Tübingen und Heidelberg unter Beteiligung der dortigen Universitätskliniken statt. Bei restriktiver Definition von Long COVID (mind. ein neu aufgetretenes Symptom mit moderater oder starker Einschränkung des Alltagslebens, sowie weniger als 80 % der prä-COVID Gesundheit und Arbeitskapazität) wurde eine alters- und geschlechtsstandardisierte Häufigkeit von 26,5 % bei Long COVID ermittelt. Sprich:
Über ein halbes Jahr nach COVID-19 leiden mehr als ein Viertel der Infizierten an Long COVID-Symptomen, die ihre Lebensqualität maßgeblich einschränken.
Typische ME/CFS-Symptome und typische ME/CFS-Demografie
Von ME/CFS ist bekannt, dass die Erkrankung in der Regel postviral nach Infektionserkrankungen auftritt. Als Auslöser sind die Influenza, das Epstein-Barr-Virus und auch SARS-CoV-1 gut dokumentiert. ME/CFS tritt in allen Altersgruppen auf und betrifft, wie für Autoimmunerkrankungen typisch, häufiger Frauen. So sind 70 - 80 % der ME/CFS-Betroffenen Frauen. In der EPILOC-Studie zeigt sich diese Demografie ähnlich:
Alle Altersgruppen sind betroffen, Frauen häufiger als Männer.
Das häufigste berichtete Symptom in der EPILOC-Studie ist die rasche physische Erschöpfbarkeit, die von gut 32 % der Studienteilnehmenden als neues Symptom 6 - 12 Monate nach COVID-19 angegeben wurde. Hier wird bereits die Parallele zum Leitsymptom von ME/CFS, der Post-Exertional Malaise, deutlich. Die Post-Exertional Malaise ist eine Zustandsverschlechterung unmittelbar oder 12 - 48 Stunden nach körperlicher und/oder geistiger Aktivität und hält in der Regel mindestens 24 Stunden an (Cotler et al., 2018). Auch die weiteren Symptome, die die Studienteilnehmenden berichten, sind im Großen und Ganzen klassische ME/CFS-Symptome: chronische Fatigue, neurokognitive Störungen, Kopf- und Muskelschmerzen. Und auch vermeintlich Long-COVID-spezifischere Symptome wie Kurzatmigkeit und Veränderungen des Geschmacks- und Geruchssinn treten auch bei ME/CFS häufig auf (Becker et al., 2001; Ravindran et al., 2013).
Methodik: etablierte ME/CFS-Fragebögen ungenutzt
Allerdings wird die große Überschneidung zu ME/CFS nur an einer Stelle in der Diskussion der Studie kurz erwähnt. Etablierte und validierte Fragebögen, die aus der ME/CFS-Forschung bekannt sind, fanden in der EPILOC-Studie keine Verwendung. Auch nicht die Kanadischen Konsenskriterien zur Diagnose von ME/CFS. Dabei hatten Kedor et al., 2021 bereits Anfang letzten Jahres gezeigt, dass viele der Long COVID-Betroffenen die Kriterien für ME/CFS erfüllen:
In ihrer am Charité Fatigue Centrum durchgeführten Studie wurde für eine ME/CFS-Diagnose nach den Kanadischen Kriterien eine Mindestdauer der Post-Exertional Malaise (PEM) von 14 Stunden gefordert, da diese Dauer in der Studie von Cotler et al., 2018 ME/CFS am besten von anderen chronischen Erkrankungen mit Fatigue unterschieden hatte. Nach Angaben des Autorenteams der Kedor-Studie war die Mindestdauer der PEM von 14 Stunden der Hauptgrund, warum ca. die Hälfte der untersuchten Personen keine ME/CFS-Diagnose erhielten, obwohl auch sie typische ME/CFS-Symptome aufwiesen: ein deutlicher Hinweis darauf, dass durch COVID ausgelöstes ME/CFS einen erheblichen Anteil von Long COVID 6 Monate nach der Infektion darstellt.
Der fehlende Einbezug von ME/CFS-Expertise führt in der EPILOC-Studie u. a. dazu, dass typische postvirale Symptome wie bspw. die orthostatische Intoleranz nicht abgefragt und nicht berücksichtigt wurden. Der großangelegte Stil der Studie hätte das Potenzial gehabt, die Häufigkeit von ME/CFS nach einer Coronainfektion präzise zu ermitteln und so zum einen die Erkenntnis nach der dringend erforderlichen Erforschung von ME/CFS entscheidend zu befördern und zum anderen die Notwendigkeit zu verdeutlichen, in der weiteren Forschung zu Long COVID auf das bereits vorhandene ME/CFS-Wissen mit knapp 8.000 Studien aufzubauen.1
Nach 2 Jahren Pandemie gibt es viele epidemiologische Studien zu Long COVID - es wird Zeit für Pathomechanismus- und Therapieforschung
In zwei Jahren Pandemie hat sich die Long COVID-Forschung sehr auf die Epidemiologie der Erkrankung fokussiert, womöglich aufgrund der Überraschung in großen Teilen der Medizin, dass ein substanzieller Teil der Infizierten nach Viruserkrankungen tatsächlich chronisch krank wird. Was ME/CFS Patient*innen seit Jahrzehnten vergeblich versuchen der Medizin und der Öffentlichkeit bewusst zu machen, wird jetzt durch die Selbsterfahrung vieler Menschen in so kurzer Zeit so deutlich, dass es doch zu einem Umdenken zu führen scheint, und sich einige Mediziner*innen und Forscher*innen neu für postvirale Erkrankungen zu interessieren beginnen.
Nach zwei Jahren Forschung ist klar: Long COVID ist häufig und gravierend. Ein Teil der Betroffenen erholt sich in den ersten Wochen und Monaten der Erkrankung, bei einem nicht unerheblichen Anteil verschlechtert und chronifiziert sich die Symptomatik. Wer einmal ME/CFS hat, hat eine Heilungschance von unter 5 % (Cairns und Hotopf, 2005), zugelassene Medikamente gibt es für die Erkrankung noch immer nicht. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, den Krankheitsmechanismus hinter Long COVID und ME/CFS zu verstehen und Therapiestudien zu starten.
Auf ME/CFS-Wissen aufbauen und Patientenexpertise mit einbeziehen
Die bereits durchgeführten Studien zur Pathophysiologie von Long COVID replizieren oftmals bereits bekannte Ergebnisse aus der ME/CFS-Literatur.2 So zeigen sich in beiden Patientengruppen dieselben Autoantikörper gegen G-Protein gekoppelte Rezeptoren. Es zeigen sich auch dieselben kardiovaskulären Auffälligkeiten: eine endotheliale Dysfunktion (Störung der Regulation der Gefäßweite), ein reduzierter Blutfluss im Gehirn und eine verminderte Verformbarkeit roter Blutkörperchen. Zudem zeigt sich eine verminderte periphere Sauerstoffaufnahme aufgrund eingeschränkter Sauerstoffdiffusion und in beiden Patientengruppen wurde ein gestörter Hirnstoffwechsel festgestellt.
Zwar ist der Krankheitsmechanismus hinter ME/CFS noch nicht abschließend verstanden, jedoch gibt es vielversprechende Hypothesen, die durch Studienergebnisse gestützt werden. Die wohl aktuell vielversprechenste Hypothese ist die Autoimmungenese: Ein (viraler) Infekt löst eine fehlgeleitete Immunantwort aus, bei der Autoantikörper produziert werden, die an körpereigene Rezeptoren binden und so deren Signalübertragung stören. Im Fokus stehen hier ß-adrenerge und muskarinerge Rezeptor-Autoantikörper, speziell Autoantikörper gegen den ß2-Adrenorezeptor (Wirth und Scheibenbogen, 2020; Wirth, Scheibenbogen und Paul, 2021). Der ß2-Adrenorezeptor ist wichtig für die Vasodilation (Erweiterung der Blutgefäße) und damit auch für die Blutzirkulation. Der Rezeptor ist bei chronischer Aktivierung anfällig für eine Desensitivierung, die bei ME/CFS dazu führen könnte, dass der Rezeptor auf Signale kaum noch reagiert, sodass andere gefäßverengende Rezeptoren (relevant für die Vasokonstriktion) dominieren und damit die Gefäßweitenregulation insgesamt gestört ist (endotheliale Dysfunktion). Daraus ableitend ließen sich viele der ME/CFS- und Long COVID-Symptome erklären: die gestörte Gefäßweitenregulation führt zu einem eingeschränkten Blutfluss und in Folge zu einer schlechteren Sauerstoffversorgung, die wiederum metabolische Folgen hat (z.B. verminderter Hirnstoffwechsel). Daraus könnten bspw. Symptome wie Fatigue und Brain Fog resultieren.
Dieses Wissen, und auch die Expertise der Patient*innen z.B. zu den Krankheitssymptomen und dem Umgang damit (Pacing), sollte in der weiteren Erforschung von Long COVID (und ME/CFS) Berücksichtigung finden und aktiv in den Prozess (Studiendesign, Forschungshypothese, Umsetzung usw.) einbezogen werden. Dies würde die Qualität der Studien deutlich verbessern und ihre Aussagekraft stärken. Zudem würden dadurch schädliche psychosomatische Forschungsansätze vermieden werden (siehe PACE-Studie). Unter Patientinnen und Patienten ist klar, dass die Forschung zu postviraler chronischer Krankheit biomedizinisch sein muss, damit es für die Betroffenen in der Versorgung tatsächlich einen Fortschritt geben kann. Dabei sollte anerkannt werden, dass ME/CFS eine große Subgruppe von Long COVID ist, damit in der Erforschung der Krankheitsbilder Synergien entstehen und ME/CFS-Betroffene nicht ein weiteres Mal ignoriert werden.
- Suche nach den verschiedenen Bezeichnungen von ME/CFS bei PubMed. ↩
- Übersicht der Überschneidungen von ME/CFS und Long Covid, Deutsche Gesellschaft für ME/CFS. ↩